Wahrheit (Krimipreis 2012)
Männer lägen hinter mir.«
»Aha. Ist das ›hinter‹ im Gegensatz zu unter mir?«
Sie stupste ihn mit ihrer dünnen Schulter an. »Schlauberger. Wenigstens hast du mir keine Lügen über deine Ehe erzählt. Das ist für einen Mann ungewöhnlich.«
Das war der Augenblick, sich für ein neues Leben zu entscheiden. Mit ihr ein anderes Leben anzufangen.
Der Nachtwind hatte den Rauch aus dem Hochland in die Straßen geweht, wo er sich mit dem Stadtgeruch mischte, mit den Ausdünstungen der Petrochemie, mit dem Geruch nach Kohlenstoff, Schwefel, Bratölen und verbranntem Gummi, nach Kanalisation, Abwässern, heißem Teer, Hundekacke und
aromatischem Nachtschweiß, dem Geruch von einer Million geöffneten Bieren und einhundert Trillionen säuerlichen menschlichen Atemstößen.
Er dachte an die Spaziergänge in der Morgendämmerung mit Bob, als er noch ein Junge war, nachdem die Bäume gepflanzt waren, die Stille in der Welt, die kühle Luft, die man trinken konnte. Als Letztes an Samstagabenden, wenn Bob in seinem Sessel saß, mit seinem Buch, seinem Glas Whisky, sagte Villani immer: »Morgen die Bäume, Dad?«
Und Bob antwortete jedes Mal: »Ich bin dabei. Weck mich.«
Soweit er sich erinnerte, hatte Bob ihm nie einen Gutenachtkuss gegeben, keinen Gutenacht-, Abschieds- oder Sonstwaskuss und auch keinen, um ihn loszuwerden. Er küsste immer Mark und Luke, zog sie an sich, strich ihnen über den Kopf. Ehe sonntagmorgens der Wecker klingelte, kam Bob in sein Zimmer, berührte ihn an der Schulter, und Villani setzte sich auf, schwang schon die Beine vom Bett, roch den Alkohol im Atem seines Vaters, rieb sich die Augen, den Kopf, wusste zuerst nicht, welcher Tag war.
In dem grauen, stillen Morgen gingen Mann und Knabe über die sanft abfallenden Weiden, durch das uralte Tor, das man anheben und schleifen musste, wo Villani die Flinte zurückließ. Sie gingen durch den Wald, zogen die abgestorbenen und absterbenden Bäumchen heraus, um sie zu ersetzen. Sie verloren nicht sehr viele. In den ersten Jahren waren die Winter feucht, und im Sommer versorgte Villani an jedem Abend unter der Woche einen Teil des Waldes mit Stauseewasser, das er mehrere hundert Meter durch alte Bewässerungsschläuche von Sportplätzen laufen ließ, die Bob auf der Müllhalde gefunden hatte. Es war nicht leicht, sie zu bewegen, die Schläuche liefen in Schlangenlinien und verhedderten sich, weil die Bäume nicht in Reihen gepflanzt waren.
Als sie mit dem Pflanzen begannen, fragte er nach dem Grund. »Ist keine Pflanzung«, sagte Bob. »In Pflanzungen
gibt es Kahlschlag. Wir pflanzen einen Wald. Den wird niemand umhauen.« Er sah Villani an, der lange, abwägende Blick. »Nicht, so lange ich lebe, und nicht so lange du lebst. Versprichst du das?«
»Ja.«
»Sag: Ich verspreche es.«
Er wiederholte die Worte.
Am Ende jedes Rundgangs sammelte Villani am Tor die Brno wieder ein, eine Repetierbüchse vom Kaliber 22, Wangenschaft, das kleine Fünf-Schuss-Magazin durfte erst eingeschoben werden, wenn es gebraucht wurde, Befehl seines Vaters. Er ging in die kleine Schlucht hinunter, die sich bis zur Straße zog, blieb ein Weilchen still sitzen und erlegte ein paar Kaninchen für Bobs Stew, den Höhepunkt der Woche, das an Sonntagen gekocht wurde, mit Möhren und Zwiebeln, Tomatensauce, Currypulver, Essig und braunem Zucker. Es schmorte stundenlang, sie aßen es mittags mit Reis. Bob mochte Reis, er konnte Reis mit Tomatensauce essen, und sie alle schlugen ihm nach.
Die Kaninchen waren gesund, auf dem Besitz war nie Myxomatose ausgebrochen.
»Gibt keine logische Erklärung«, sagte Bob. »Dadurch will uns die Natur etwas sagen.«
Die Kaninchen blieben auch ohne Gemetzel beherrschbar. Das übernahmen andere Tiere, die verwilderten Katzen und die Füchse. Die schossen sie, doch Bob ließ keine Fuchsjäger auf sein Grundstück. Eines Sonntags, sie aßen gerade ein Stew, hupte draußen ein Fahrzeug, ein langer, quäkender Hupton, zwei kurze Töne, noch einer.
»Das gehört sich nicht«, sagte Bob. »Sieh nach, wer es ist, Stevie.«
Villani ging durch den Flur, vor die Haustür. Ein Pick-up in der Auffahrt, auf dem Weg zum Haus zwei große Männer, Rotschöpfe, fett, schmutzige Klamotten.
»Hol dein’ Dad«, sagte der Ältere, Halbglatze, Sommersprossen, eine Strähne über die kahle Stelle gekämmt.
Villani musste Bob nicht holen, er kam schon raus, drehte sich einhändig eine Zigarette, hinter ihm flog die Fliegengittertür zu, ein mattes
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