Wahrheit (Krimipreis 2012)

Raubüberfälle, Jugendliche verkauften sich jedem für irgendwas, die Leute lagen tot in Gassen, auf Bahnhöfen, in Tunneln, in Abwasserkanälen, an den verdreckten Stränden herum.
    Villani erinnerte sich noch, wie das Hauptgeschäftsviertel sicher genug war, dass man freitagnachts hindurchgehen konnte. Doch kaum breiteten sich die Chemikalien aus, sahen Cops regelmäßig Dinge, die früher selten waren – wie Jugendliche alte Leute zusammenschlugen, wie Frauen und Kinder geschlagen wurden, wie Nachbarn, Freunde, Taxifahrer, Leute in Zügen, Straßenbahnen, Bussen, Fremde auf Partys, in Kneipen und Nachtclubs geprügelt, getreten und erstochen, mit Schwertern zerhackt wurden, sowie aggressive Gewalt im Straßenverkehr, Steine flogen auf Straßenbahnen, auf Zugführer.
    Dann schaffte man die Alkoholgesetze ab. Ein zivilisatorischer Vorgang, hieß es. Australiens europäischste Stadt brauche weniger rigide Alkoholgesetze.
    In kurzer Zeit eröffneten hunderte Clubs und Kaschemmen in wenigen Dutzend Häuserblocks im Geschäftsviertel, die meisten gehörten denselben Leuten, die auch die Poledance-Clubs und Tittenbuden betrieben.
    An Wochenenden strömten tausende und abertausende Menschen in die Innenstadt, es galt als sehr europäisch, mit
seinen Kumpels aus Donnie, Brookie und Hoppers dort einzufallen, schon vorher ziemlich knülle, und dort alles zu schlucken, bis man völlig dicht war, ohne jede Angst rumlief, Mann, wofür das Crystal-Meth-Fieber sorgte, seinen Kumpel bekämpfte, jedes Arschloch, das einen anguckte, und dass man überall hinreiherte, hinpisste, hinkackte.
    Handy.
    »Ist das ein guter Zeitpunkt, Chef?« Dove.
    »Hängt davon ab, was Sie zu sagen haben.«
    »In Preston hat man gar nichts gefunden. Keine Abdrücke, keine DNA. Gar nichts. Es gibt Anzeichen dafür, dass alle Spuren beseitigt wurden.«
    »Es ist kein guter Zeitpunkt«, sagte Villani.

T ief hinten im Eisfach fand er eine in Plastik verschweißte Pizza. Er legte sie in die Mikrowelle und setzte sich dann zum Essen an den Mönchstisch. Sie schmeckte wie in einem Gletscher entdeckte Lebensmittel, die hundert Jahre lang im Eis eingeschlossen waren, wie die Erinnerung an eine Pizza, bei der man alle schmackhaften Bestandteile vergessen hatte.
    Zum Duschen stellte er sich in eine große Porzellanuntertasse. An einem Haken neben der Tür hing ein dicker, weicher Frottee-Herrenbademantel. Eigentum des geheimnisvollen Anwaltarschlochs aus Byron Bay?
    Nackt durchquerte er das Ankleidezimmer und legte sich auf das niedrige Bett, eine steinharte Matratze, wahrscheinlich ein Futon. Futons. Wurden heutzutage noch Futons verkauft? Er betrachtete seinen Körper, war nicht zufrieden damit. Er berührte die dreckigen Stellen, die lila Flecken, wo Les ihn in die unteren Rippen getroffen hatte, eine gute Stelle, um jemanden zu schlagen, die Rippe in die Körperhöhle zu biegen.
    Anna hatte nicht angerufen.
    Hätte er eine Nachricht hinterlassen sollen? Neben ihrem Telefon im Flur lag ein Notizblock, er hätte ein paar Worte schreiben können.
    Ich liebe dich. Stephen.
    Er hätte es als Scherz abtun können. Oder auch nicht. Falls die Reaktion positiv ausfiel. Wahrscheinlich nicht. Garantiert nicht.

    Was war er doch für ein blöder, trotteliger Teenager.
    Lizzie. Man würde ihn anrufen, falls man sie fand, er hatte die Anweisung dazu erteilt, jederzeit, vierundzwanzig Stunden am Tag. Irgendwo bei den Stadtstreichern? In irgendeiner Spalte in der Innenstadt, in einem Tunnel, einem halb fertigen Hochhaus, wo sie auf dem nackten Beton schlief? An solchen Stellen fand man täglich Tote.
    Das Prosilio-Kind.
    Der Truckstop am Hume. Ein belebter Highway, eine heiße Nacht, kein Lüftchen. Sobald man die Wagentür öffnete, schlug einem alles entgegen: Benzin, Diesel, erhitzter Gummi, Abgase, Frittenfett, der Geruch von verbranntem Fleisch. Übergewichtige Trucker kamen aus dem Waschhaus, nasse Haare, Männer schissen, rasierten sich, duschten, schamponierten sich.
    Man hörte Motoren ticken, Klimaanlagen und Sauglüfter rattern.
    Ein Mädchen kam aus dem Waschhaus, eine Weiße, und redete mit einem Mann in ihrer Muttersprache. Nicht Englisch. Unterwegs nach Melbourne, zu der hässlichen Festung in Preston, vielleicht mit einer billigen Reisetasche aus Nylon im Kofferraum, Nuttenkleidung, sexy BHs, Hosen, Strapse.
    Um in dem Hochhaus der Reichen umgebracht zu werden. Bei der Suche nach ihrem Mörder waren sie keinen Zentimeter weitergekommen. Die Besitzer des