Wainwood House - Rachels Geheimnis
Mutter nicht länger und wich ihm aus, indem sie das neue Buch wegräumte. Sie legte einen abgebrochenen Pfeilschaft als Lesezeichen zwischen die Seiten und schloss es in ihrem Sekretär ein. Ohne sich wieder zu ihrer Mutter herumzudrehen, rückte Penelope mit einigen Handgriffen Tintenfass, Füllfederhalter und Bleistifte zurecht. Ein gestreiftes Stück Schnur verschwand zusammen mit einem silbernen Federmesser in einer der Schubladen, und Penny entdeckte unter einem Stapel seit Wochen zu beantwortender Briefe einen herausgerissenen Zeitungsartikel wieder, den sie schon lange gesucht hatte.
»Seien wir mal ehrlich«, sagte ihre Mutter, die immer noch auf dem Bett saß. »Welchem Gentleman würde es je gelingen, dein Wohlwollen zu gewinnen? Ihr beiden hingegen versteht euch ausgezeichnet.«
Genevieve Goodall wies nicht darauf hin, dass es genauso unwahrscheinlich war, dass Penny eines Tages den Heiratsantrag eines reichen Erben bekommen würde. Manche Dinge mussten nicht erst ausgesprochen werden, um wie mit einem unsichtbaren Ausrufezeichen versehen mitten im Raum zu stehen.
»Ich dachte immer, du würdest nicht viel von Julian halten«, giftete Penny und pfefferte die Lade des Sekretärs so schwungvoll zu, dass das alte Holz bebte.
»Er verliert sich zu gerne in Tagträumen«, gab Genevieve nüchtern zu. »Aber das kann sich noch herauswachsen. Dass er dir nie einen Titel und ein Anwesen bieten kann, wird dich nicht stören. Und wenn dein Vater ihm ein Offizierspatent kauft, könnte er in ein paar Jahren einen passablen Posten innehaben. Er ist ein kluger Junge, mit einem Händchen für Pferde und einem vernünftigen Maß an Charme. Es wurden schon mit schlechteren Voraussetzungen achtbare Karrieren aufgebaut. «
Penelope drehte sich wieder herum, den Schreibtisch im Rücken. Ihre Mutter hatte sich vom Bett erhoben. Für einen Moment standen sie sich mitten im Zimmer gegenüber.
»Wir werden das niemals wollen, er nicht und ich auch nicht«, stellte Penelope fest. In Gedanken schob sie die Frage beiseite, ob es tatsächlich so unmöglich sein würde, einen akzeptablen Ehemann zu finden, und wenn, ob das dann ein Grund wäre, darüber unglücklich zu sein. »Wir werden immer nur Freunde sein.«
»Es wurden schon Ehen aus schlechteren Gründen geschlossen«, gab Genevieve zu bedenken. »Euch beiden bleiben noch ein paar Jahre. Denke einfach mal darüber nach. Und jetzt solltest du packen. Ich werde dir Hanna hinaufschicken, damit sie dir zur Hand geht.«
Doch Penny und auch die Gäste saßen noch einige Tage länger auf Wainwood fest. Der Schnee hatte die Landstraßen für die Automobile unpassierbar gemacht und der alte Pferdeschlitten war die einzige Verbindung zur Außenwelt. Die Eingeschlossenen schienen ihr Los als ein Abenteuer zu betrachten, umso mehr, als sich inzwischen herumgesprochen hatte, dass eines der Dienstmädchen ermordet worden war. Die Polizei und der Hausherr übten sich in Verschwiegenheit, dafür übernahmen es die Besucher liebend gern, die Geschichte aus Mangel an Details selbst auszuschmücken. Einigkeit herrschte nur in dem einen Punkt, dass das arme Ding offenbar von einem Verehrer vergiftete Süßigkeiten geschickt bekommen hatte. Das bestärkte die Herrschaften in der allseits verbreiteten Meinung, dass Hausmädchen keine Verehrer haben sollten, ließen sie doch nur uneheliche Kinder, gebrochene Herzen und nun offenbar auch noch Leichen zurück. Kurz vor Silvester, gerade noch rechtzeitig, bevor die heitere Aufgeräumtheit in Langeweile umschlagen konnte, verkündete Lord Derringtons Chauffeur, dass Englands Straßen wieder befahrbar seien, und die Dienstmädchen machten sich sogleich daran, die Koffer der Gäste zu packen.
Als Julian am nächsten Morgen in der Frühe aufbrach, war auf der großen Freitreppe keine Menschenseele zu sehen. Die Dämmerung war nicht mehr fern, aber noch herrschte ein bläuliches Zwielicht, in dem sich der weiße Schnee scharf gegen den Schattenriss der kahlen Bäume abzeichnete. Allein kutschierte er den Einspänner durch den Park. Das metallische Klirren des Geschirrs und das Stampfen der Hufe waren weithin das einzige Geräusch. Die Hecken und Statuen waren noch unter einer klebrigen Schneedecke gefangen, nur der Fluss strömte gurgelnd durch sein Bett, als die kleine Kutsche die Brücke überquerte. Als er in die Allee einbog, rückte das Herrenhaus hinter ihm stillschweigend außer Sichtweite. Es verschwand hinter einer Kurve und wurde sittsam
Weitere Kostenlose Bücher