Wainwood House - Rachels Geheimnis
von einem Gehölz verborgen. Julian brauchte sich nicht auf dem Kutschbock umzuwenden, er wusste auch so, dass jetzt nur noch die Dächer von Wainwood über die Baumwipfel hinweg zu sehen waren.
Trotz der ungewissen Dauer seiner Verbannung war es eine Erleichterung für ihn gewesen, endlich aufzubrechen. Lord und Lady Derrington hatten in den letzten Tagen die gleiche beharrliche Liebenswürdigkeit bewiesen, wie seit dem Tod seiner Eltern, doch Julian hatte bei jedem Schritt durch das Haus gespürt, dass er dieses Mal zu weit gegangen war. Die Missbilligung darüber schien selbst den alten Porträts an den Wänden bereits vor Generationen ins Gesicht gemalt worden zu sein. Ihre stillschweigende Anklage sammelte sich zwischen den kostbaren Möbeln und in den endlosen Korridoren, wie Pfützen von Schmelzwasser, die sich zu einem See aufstauten. Mehr denn je fühlte sich Julian wie ein heimatloser Streuner, der in einer stürmischen Nacht aufgenommen worden war und trotz des strahlenden Sonnenscheins am nächsten Morgen hartnäckig geblieben war. Er hatte den Familiensinn der Derringtons zu lange strapaziert und Penelope einmal zu oft geholfen, alle Verbote zu brechen.
Wie um der Anhäufung seiner Selbstvorwürfe die Krone aufs erhobene Haupt zu setzen, sah Julian Samuels Gesicht vor sich, sobald er die Augen schloss. Der junge Hausdiener war nicht vor ihm zurückgewichen, doch die starre Miene, hinter der er sich verschanzt hatte, war beredsam genug gewesen. Auf eine Liebesbeziehung zwischen zwei Männern standen vor Gericht Jahre im Gefängnis bei schwerster Zwangsarbeit. Also hatte sich Julian auf der Terrasse ganz so verhalten, als hätte er nur eine freundschaftliche Umarmung gesucht. Und Samuel war ihm Freund genug gewesen, um Unwissenheit vorzutäuschen. Doch ihre Begegnungen waren seitdem nicht mehr dieselben gewesen. Als hätte es niemals mitternächtliche Picknickgelage und schlaftrunkene Scherze zwischen ihnen gegeben, waren alle Formen aufs Peinlichste gewahrt worden. Julian hatte immer mehr Handgriffe alleine erledigt und immer seltener nach Samuel geklingelt. Hätte der Butler den jungen Hausdiener nicht weiterhin zum Wecken zu Julian hinaufgeschickt, wären sie sich in den letzten Tagen gar nicht mehr allein begegnet.
Nachdem Julian seiner Familie, seinem alten Schulfreund und seinem eigenen Diener aus dem Weg gegangen war, stellte die einsame Fahrt durch die verschneiten Gärten eine Erlösung dar. Die beißende Kälte vertrieb die letzten klebrigen Traumfetzen und belebte ihn stärker, als frischer Kaffee es getan hätte. Das Pferd fand den Weg fast von allein. Der Himmel über ihm lichtete sich immer mehr. Als er das Eisentor erreichte, schlüpfte eine schmale Gestalt hinter der Hecke hervor. Es war Jane Swain. Sie trug einen langen Wollschal mehrmals um den Kopf geschlungen, unter dem nur noch ihre Nase und ihre dunklen Augen zu sehen waren. In der einen Hand hielt sie eine abgewetzte Tasche aus Teppichstoff, die andere war in den Tiefen ihres dünnen Mantels verschwunden. Julian zügelte das Pferd und wollte ihr gerade beim Aufsteigen helfen, doch anstatt seine Hand zu nehmen, kletterte sie ohne seine Hilfe auf den Tritt und von dort auf den Kutschbock des offenen, kleinen Wagens.
»Mr Frost hat einige Decken bereitgelegt«, sagte Julian, um das Schweigen zwischen ihnen zu durchbrechen. »Es hat Sie doch niemand im Park gesehen?«
Nachdem er schon die Hälfte des Plans in der Bibliothek mit angehört hatte, war Thaddeus Feltham zu dem Schluss gekommen, dass Julian sich genauso gut nützlich machen konnte. Der Colonel hatte mit Lord Derringtons Unterstützung nichts unversucht gelassen, um den Eindruck zu erwecken, dass es Jane gewesen war, die bei dem Giftanschlag ums Leben gekommen war. Die Polizei hatte am Ende dem Plan des Colonels zugestimmt, um das Mädchen zu schützen, und war bereit, solange wie möglich Verschwiegenheit zu wahren. So hatten die übrigen Bewohner von Wainwood fast nichts mitbekommen. Jane wurde seit Beatrice’ Tod auch nicht mehr im Haus gesehen. Die Gerüchte, die vom Gesindetrakt über die Salons bis in die herrschaftlichen Schlafzimmer schwirrten, fußten allein darauf, dass das Dienstmädchen zu Weihnachten ein Päckchen bekommen hatte. Es sollte einen Londoner Poststempel vom 23. Dezember 1907 getragen und außer einigen delikaten Süßigkeiten Spuren von Zyankali enthalten haben. In den Verhören der Polizei war, ohne Erwähnung von Janes Namen, nur die Rede von
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