Wainwood House - Rachels Geheimnis
von geschäftigem Treiben, rastlosen Kutschen und blühenden Zweigen. Mit etwas angespartem Lohn in der Tasche lockten die modernen Kaufhäuser. Im Hyde Park ritten elegante Damen auf ihren Pferden an Jane vorbei. Jedes Haus entlang der Straße putzte sich für die bevorstehende Saison heraus, in der für zwei Monate die vornehme Gesellschaft in der Stadt einfiel wie ein rastloser Schwarm. Sie trafen mit ihrem Gesinde, ihren Rennpferden und ihren Automobilen ein. Und sie waren bereit, das eine oder andere Vermögen für ihre Garderobe, ihre Unterhaltung und ihre Verpflegung zu verschwenden. Vom frühen Morgen an, bis spät in die Nacht, musste gesellschaftlichen Verpflichtungen Genüge getan werden. Niemand erwartete in dieser Zeit besonders viel Schlaf, am wenigsten die Dienstboten oder die Debütantinnen.
Anders als Victoria vor ihr hatte Königin Alexandra den Empfang der jungen Damen wieder auf den Abend verlegt. Nach allem, was Jane darüber zu hören bekommen hatte, war es eine elendig lange, elendig langweilige Angelegenheit, bei der mehrere Hundert Mädchen stundenlang geduldig in ihren kostbarsten Roben warteten, um einmal vor den Monarchen zu knicksen. Sobald sie sich aus dem Knicks erhoben hatten und rückwärts zur Tür schritten, galten sie fortan als erwachsene Frauen. Wieder einmal verstand Jane die ganze Aufregung nicht, doch selbst die Zeitungen kannten kein anderes Thema mehr. Und die Menschen aus ganz London strömten rund um den Buckingham Palast zusammen, um einen Blick auf die herausgeputzten Mädchen zu werfen. Penelope und Claire trugen lange cremefarbene Kleider mit aufwendigen Stickereien und einer Schleppe. Ihre Handschuhe reichten den halben Arm hinauf. In ihren aufgetürmten Haaren wurde nicht nur ein zarter Schleier festgesteckt, sondern auch die traditionellen drei Straußenfedern. Jane, die wusste, wie schwer die vielen Stoffbahnen des Kleides waren, fragte sich, wie Penelope das stundenlange Warten darin überleben sollte. Ganz zu schweigen von dem grazilen Knicks auf den hochhackigen Schuhen.
Lady Derrington schien derselben Meinung zu sein, denn zu Claires Entsetzen weigerte sie sich, die Mädchen nach dem Empfang bei Hofe noch auf einen Ball fahren zu lassen. Stattdessen ließ sie Fotografien von den beiden aufnehmen und feierten ihr Debüt im Stadthaus der Familie Goodall. Somit stand der erste Ball der beiden Schwestern erst am darauffolgenden Abend bevor. Die Einladung war für acht Uhr ausgesprochen worden. Um Schlag sechs brach das Chaos aus. Beide Mädchen hatten zu diesem Zeitpunkt bereits gebadet und sich in mehrere Schichten spitzenbesetzter Unterwäsche gehüllt. Hanna hatte vor Aufregung knallrote Wangen, als sie Claire in ihr Korsett schnürte. Und Jane empfand eine tiefe Dankbarkeit dafür, dass Annabell ihr mit Penelopes Haaren half. Auf dem ganzen Bett waren Strümpfe, Taschentücher und Haarspangen verteilt worden, nur der zweite Abendhandschuh von Pennys elfenbeinfarbenem Paar erwies sich als unauffindbar. Claire versuchte seit dem Frühstück, ihre Mutter dazu zu überreden, ihr eine ihrer kostbaren Perlenketten zu leihen, und war nicht bereit, sich ge schlagen zu geben. Penelope hingegen schien nicht wirklich zu bemerken, was sie trug. Jane war aufgefallen, dass sie beim Tee nichts gegessen hatte und inzwischen mit deutlich mehr als einem Hauch von Panik ihr eigenes Abbild in dem mannshohen Spiegel musterte.
Seit gestern durfte sie die aufwendigere Garderobe einer erwachsenen Frau tragen. Annabell hatte für sie ein zartgrünes Kleid aus mehreren Lagen hauchdünnen Chiffons ausgewählt. Die Ärmel endeten kurz über der Schulter. Das Kleid war erst oberhalb der Taille gerafft und verhalf ihr zu einer hochgewachsenen, eleganten Erscheinung. Um die rosa Perlenstickereien nicht in den Schatten zu stellen, wählte Annabell nur eine schlichte Kette aus und steckte Penelope eine einzelne Rosenknospe in die hochgesteckten Locken. Penny hatte all das über sich ergehen lassen, ohne ein Wort zu sagen, während die junge Zofe fortwährend plapperte. Jane fand den Handschuh unter einem Sofakissen wieder und berührte Penelope unauffällig an der Schulter, um sie aus ihrer Starre zu reißen. »Du siehst wunderschön aus«, raunte sie ihr zu. »Und du bist viel stärker als all das hier!«
An Penelopes halbherzigem Lächeln erkannte Jane, dass ihre Freundin ihr nicht glaubte, doch im Gegensatz zu Claire, die Hanna tyrannisierte, und Lady Derrington, die endlich die
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