Wainwood House - Rachels Geheimnis
eine gute Partie zu machen. Du dagegen kannst jede Chance gebrauchen, die sich dir bietet.«
Penelope brauchte ihre ganze Aufmerksamkeit, um weiter an der Seite ihrer Tante die Straße hinabzuschlendern, anstatt stehen zu bleiben und in ungläubiges Gaffen zu verfallen. Doch ihr Mangel an Gesprächigkeit schien Mildred nicht zu stören.
»Ich habe deiner Mutter versichert, dass du unter meiner Obhut große Fortschritte gemacht hast und wir uns nun darauf verlassen können, dass du dich in London von deiner besten Seite zeigen wirst.« An dieser Stelle traf sie ein bedeutungsschwerer Blick. »Wir werden nächste Woche zur Schneiderin in die Stadt fahren, um deine Garderobe aufzurüsten. Sobald wir alles beisammenhaben, heißt es packen. Aber bis dahin haben wir noch eine Menge Arbeit vor uns. Und vielleicht unterlässt du in London das Klavierspielen lieber.«
Was nun folgte, schien Penelope im Nachhinein mehr Ähnlichkeit mit einer militärischen Operation zu haben als mit den Vorbereitungen für den Tag, an dem sie einem Schmetterling gleich das sichere Nest ihrer Kindheit hinter sich lassen sollte, um sich mit der vollendeten Eleganz einer Dame im Kreise der vornehmsten Gesellschaft zu bewegen. Es wurde eine horrende Summe für ihre Garderobe ausgegeben. Pennys einziger Trost war, dass Annabell genug Modeverstand für sie alle zusammen hatte. Sie musste unter der kritischen Anwesenheit ihrer Tante immer weiter den Hofknicks üben, der tiefer und komplizierter war als die übliche Variante. Ihre Anspannung ließ auch nicht nach, als Annabell sie darüber aufklärte, dass die Magazine den Debütantinnen ganze Artikel widmeten und es in London Schulen gab, die junge Mädchen allein auf dieses einschneidende Ereignis vorbereiteten. Offenbar schien das jeder, außer ihr, für einen Anlass zur Freude zu halten. Die Saison in London, das waren zwei Monate voll von Vergnügungen wie Gartenpartys und Bälle, festliche Dinner und Kunstaustellungen, Kutschfahrten im Park und Pferderennen in Ascot. Der ganze Haushalt kannte kein anderes Thema mehr. Penny hingegen spürte ganz deutlich, dass sie noch nicht bereit dafür war, sich auf dem hart umkämpften Heiratsmarkt, der die Saison in Wahrheit war, bis auf die Knochen zu blamieren. Geschweige denn um jeden Preis einen Ehemann zu ergattern, was ihr fast noch schlimmer erschien.
Zum ersten Mal ahnte Penelope, was ihre Mutter mit der Behauptung gemeint hatte, dass eine Hochzeit mit Jules für alle Beteiligten eine saubere Lösung wäre. An dem Morgen, an dem Penelope zusammen mit ihrer Tante und den Dienstmädchen in den Zug nach London stieg, hatte sie das Gefühl, sich zum ersten Mal in ihrem Leben nicht länger ausmalen zu können, wie ihre Zukunft sein würde, sondern anerkennen musste, wie es wahrhaftig um ihr Leben bestellt war. Diese Aussicht unterschied sich so grundlegend von Penelopes Tagträumereien, dass sie am liebsten wieder ausgestiegen wäre, um noch ein bisschen länger in Barrow spazieren zu gehen und Tante Mildreds süße Puddings zu löffeln.
Doch der Zug schob sich, vom heißen Dampf in seinem Kessel vorangetrieben, unaufhaltsam auf London zu. Während Penelope die grauen Städte und grünen Täler Englands vorbeiziehen sah, kam ihr der Gedanke, dass sich Lord Nyles mit all seinen verrückten Abenteuern deshalb so hartnäckig blamierte, weil er hoffte, seiner Zukunft auf diese Weise noch ein wenig länger aus dem Wege gehen zu können. Doch in Wahrheit hatten sie beide keine andere Chance, als sich ihrem Schicksal zu stellen. Die einzige Frage war, mit welcher Haltung sie der erwachsenen Welt entgegentreten wollte.
Als Jane zum zweiten Mal in ihrem Leben nach London kam, war alles wie verwandelt. Natürlich reiste sie noch immer in einem Abteil dritter Klasse. Die Häuser ragten noch immer viele Stockwerke hoch in den Himmel. Und auf den Straßen fuhren mehr Automobile, als sie jemals zuvor an einem Ort gesehen hatte. An einigen Stellen sogar drei oder vier direkt hintereinander! Doch anders als im letzten Herbst hatte Jane inzwischen Freunde, auf die sie vertrauen konnte. Außerdem schlief sie dieses Mal nicht in einer muffigen Pension, in der es den ganzen Tag über nach gebratenem Fisch und hart gekochten Eiern roch. Lord Derringtons Stadthaus lag am Grosvenor Square direkt an einem kleinen Park. In ihrem Zimmer unter dem Dach konnte Jane sogar die rauschenden Baumkronen sehen, wenn sie sich weit genug aus dem Fenster beugte.
Im Mai war London voll
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