Wainwood House - Rachels Geheimnis
vorbei an endlosen Reihen blank polierter Fensterscheiben, dunkler Türen und glänzender Messingschilder. Schmiedeeiserne Gitter flankierten ihren Weg. Hohe Laternen ragten neben ihnen auf. Droschken ratterten auf dem Kopfsteinpflaster vorbei, dicht gefolgt von Automobilen. Noch immer gab es Pferdemist auf den Straßen. Zeitungsburschen boten die Abendausgaben feil. Ein Telegrammbote überholte sie auf dem Fahrrad. Der Geruch von Rauch hing in der Luft, da ganz London mit Öfen und Kaminen geheizt wurde, deren Schornsteine Tag und Nacht rußigen Qualm in den Himmel spien. Die Sonne war noch nicht vollends untergegangen, stand aber schon hinter den hohen Häusern und tauchte nur noch die Dächer in ein schwindendes Glühen.
»Ich wollte dich nicht täuschen«, brach Jane end lich das Schweigen. Sie warf einen prüfenden Blick die Querstraße hinab, um sich zu vergewissern, dass sie noch immer auf dem richtigen Weg waren. Der Hyde Park musste zu ihrer Rechten liegen. Irgendwo vor ihnen war das Viertel St. James mit seinen Clubs und Regierungsgebäuden. Doch obwohl Jane über einen guten Orientierungssinn verfügte, fiel es ihr schwer, sich in London zurechtzufinden. Sie konnte nicht mehr ohne zu zögern die Himmelsrichtungen bestimmen und die Zeit allein vom Stand der Sonne ablesen wie in der Wüste. Überall ragten Kirchtürme auf, deren eiserne Uhrzeiger ihr sehr unzuverlässig vorkamen. Die zahllosen Straßen führten sie immer mehr in die Irre .
»Ich bin mir bewusst, dass du keine andere Wahl hattest«, sagte Samuel mit demselben würdevollen Ernst, mit dem er einen Gast an der Haustür begrüßte, um ihm den Mantel abzunehmen.
»Das hatte ich tatsächlich nicht«, antwortete Jane schärfer als beabsichtigt. Sie hatten in den letzten Tagen kaum Gelegenheit dazu gehabt, ein Wort miteinander zu wechseln, denn natürlich waren sie nirgends im Haus allein gewesen. »Es brach alles ganz plötzlich los und ließ sich nicht aufhalten.«
An der nächsten Kreuzung zwang sie ein Pferdeomnibus, stehen zu bleiben. Als Jane Samuel von der Seite ansah, bemerkte sie auf der anderen Straßenseite einen jungen Mann mit gebräunten Zügen, der sie zu mustern schien. Dann ratterte der Bus vorbei und im nächsten Augenblick war er zwischen den Passanten verschwunden.
Samuel hatte Jane kurzerhand beim Arm gepackt, damit sie nicht überfahren wurde, und ließ sie jetzt mit demselben unbewegten Gesichtsausdruck wieder los. »Du musst mir nichts erklären«, behauptete Samuel in einem Tonfall, der so farblos war, dass er das genaue Gegenteil besagte.
»Verdammt, Sam«, fuhr Jane ihn voll hilfloser Wut an. »Beatrice ist tot, dank meines Päckchens! Mr Frost hat mich tagelang auf meinem Zimmer eingeschlossen, damit niemand sieht, dass das falsche Mädchen gestorben war. Und dann hat er mich mitten in der Nacht au s dem Haus geschmuggelt. Ich hatte keine Gelegenheit mehr, noch bis in die Männerunterkünfte zu schleichen.« Sie war stehen geblieben, um ihn ansehen zu können, und glaubte im selben Moment den Bowler des dunkelhäutigen Mannes hinter einem Kohlekarren zu entdecken. Aber natürlich gab es unzählige Bowler in ganz London und die kugelförmigen Filzhüte unterschieden sich kaum voneinander. Irgendwo weit über ihnen war ein spitzer Schrei zu hören, der fast wie ein Falke klang, doch natürlich war das vollkommen unmöglich. Jane sah noch einmal zurück und bemerkte, dass sie den richtigen Weg endgültig aus den Augen verloren hatten.
Als sie wieder zu Samuel aufsah, geriet seine starre Miene in Bewegung. In rascher Abfolge hetzten einige widersprüchliche Gefühle über sein Gesicht, so schnell, dass Jane sie nicht fassen konnte. Dann richtete er den Blick fest auf ein Plakat, das hinter ihr an einer Backsteinwand für Seife warb. »Ich weiß, dass du keine andere Wahl hattest. Aber, Jane, wenn du wüsstest, wie sich mir plötzlich alles entzogen hat, was vorher gut und wahr gewesen ist.«
Jane hätte ihm darauf gerne etwas erwidert, doch jetzt sah sie ganz deutlich, dass der braune Bowler wieder da war. Er gehörte zu einem jungen Mann mit schwarzen Haaren und einem orientalischen Gesicht. Anstatt also Samuel zu fragen, was um alles in der Welt passiert war, raunte sie: »Wir werden verfolgt.«
Zumindest dachte sie das, bis der Mann ganz offen auf sie zuging. Er bewegte sich mit müheloser Geschmeidigkeit durch den Verkehr auf der Straße und sah dabei unverwandt zu ihnen hinüber. An der nächsten Straßenecke
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