Wainwood House - Rachels Geheimnis
können.
»Es ziemt sich für eine Dame nicht, an Türen zu lauschen«, stellte eine helle Stimme hinter ihr mit belehrender Endgültigkeit fest. »Genau genommen ziemt es sich für niemanden.«
Penelope richtete sich auf und legte eine Hand auf Benjamins Lockenkopf, damit er nicht auf der Stelle wieder in haltloses Geplapper ausbrach. Sie drehte sich betont gelassen zu ihrer älteren Schwester herum. Natürlich lächelte Claire. Es war das feine, wohl einstudierte Lächeln jener maßlosen Überlegenheit, für die Penny sie so sehr verabscheute.
»Aber genau genommen bist du auch noch gar keine Dame, nicht wahr?«, fügte Claire mit einer Nachsicht hinzu, die so gönnerhaft klang, dass Penelope ihr am liebsten das herzförmige Gesicht zerkratzt hätte. Denn Claire war all das, was Penny niemals hoffen konnte zu sein. Sie war ihr um ein Jahr im Alter voraus und in allem anderen ebenso. Die modischen Frisuren, die bei Claires honigblonden Locken so famos aussahen, zerfielen bei ihrer jüngeren Schwester prompt zu einem wirren Durcheinander, Claires Kleider saßen stets tadellos. Ihre Haut wurde niemals von Sonnenbräune oder Pickeln verunziert. Und sie wusste stets die richtigen Sachen zu sagen, während Penelope entweder zu viel oder zu wenig sprach und niemals die Antworten gab, die von ihr erwartet wurden.
»Genauso wenig, wie du!«, fauchte Penny und konnte nicht verhindern, dass sie wie der ewig übellaunige Schoßhund ihrer Großtante klang. »Noch hast du dein Debüt nicht hinter dich gebracht. Ganz gleich, wie sehr du dir wünschtest, es wäre so.«
»Nun, immerhin debütiere ich in der nächsten Saison, nicht wahr?« Selbst Claires Stimme schien aus klarem Glas gemacht und klang wie kostbares Kristall. Penny verspürte das dringende Bedürfnis, etwas zu zerbrechen. Vielleicht die Vase, in der Claire täglich frische Blumen anordnete, oder den kleinen Handspiegel, den sie zum Geburtstag bekommen hatte.
»Wir sind auf geheimer Mission!«, gellte Benjamin dazwischen. Er war es nicht gewohnt, so lange missachtet zu werden, und kannte keine Scheu, sich der Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zu versichern. »Wir beobachten die Indianerin. Bo spioniert für uns in der Bibliothek!« Er hatte seine Schwierigkeiten mit dem langen Namen des roten Katers und kürzte ihn deshalb auf zwei Buchstaben ab.
»Bo«, erinnerte Claire ihn unbarmherzig, »kann aber nicht sprechen. Es ist also kein umfangreicher Bericht von ihm zu erwarten.«
Die drei Geschwister bemerkten zu spät, dass die andere Tür zur Bibliothek bereits wieder geöffnet worden war und Mr Frost mit Jane im Schlepptau herauskam. Prompt verstummten alle drei, obwohl zumindest Benjamin so aussah, als könne er vor Aufregung kaum an sich halten. Er hatte den Mund aufgesperrt, wie um etwas zu sagen, und seine Augen klebten voller Bewun derung an Janes schmaler Gestalt. Falls der Butler bemerkt hatte, dass sich die Kinder seines Herrn im Entree unvorteilhaft benahmen, gelang es ihm mühelos, diesen Umstand zu ignorieren. Er schritt so unbeteiligt an ihnen vorbei, als wären sie nicht anwesend. Allein Jane sah im Vorrübergehen auf. Anders als die meisten Dienstmädchen senkte sie nicht sofort wieder sittsam den Blick, sondern blickte den drei Goodall-Kindern mit aufmerksamem Ernst entgegen. Während Claire durch sie hindurchsah und Benjamin breit lächelte, erwiderte lediglich Penelope ihren Blick mit der gleichen Neugier. Schon war der Moment verstrichen und das Haus verschluckte den Butler und das Mädchen.
2. KAPITEL Familienporträt
A m unteren Ende des Korridors wurde die grüne Tür lautlos hinter Mr Frost und Jane ins Schloss gezogen, und als wäre dies der Startschuss eines Wettrennens, erwachte Benjamin aus seiner Starre. Mit vor Aufregung geröteten Wangen wollte er dem fremden Mädchen nachlaufen. Penelope bekam ihn nur deshalb am Arm zu fassen, weil sie mit seiner Reaktion gerechnet hatte und ihm beherzt in den Weg sprang. »Wir können nicht nach unten gehen, Benny, Vater würde es nicht dulden«, ermahnte sie ihn, obwohl sie nichts lieber getan hätte, als auszuspionieren, wohin Jane gebracht wurde.
»Warum nicht?«, quengelte Benjamin.
Claire gab ihm einen strafenden Klaps auf den Hinterkopf. Für gewöhnlich weigerte sie sich, die Existenz ihres kleinen Bruders auch nur zur Kenntnis zu nehmen, doch jetzt konnte sie einen scharfen Tadel nicht unterdrücken. »Wir gehen niemals hinunter, du Kindskopf«, erklärte sie ihm von oben herab. »Es ist
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