Wainwood House - Rachels Geheimnis
das Reich der Dienerschaft, nicht unseres. Was hätten wir dort auch zu suchen?«
Im Kellergeschoß des Hauses lagen die Räume des Gesindes. Die Menschen, die an diesem wundersamen Ort hausten, das waren die Mädchen, die morgens das Feuer in den Kaminen anzündeten, die Hausdiener in ihren makellosen Anzügen und all jene geheimnisvollen Personen, welche die Kinder der Goodalls niemals zu Gesicht bekamen, obwohl sie tagtäglich im ganzen Haus ihrer Arbeit nachgingen. Es gehörte zu den Aufgaben dieser niederen Dienstboten, unsichtbar zu bleiben, um niemanden mit ihrem bloßen Anblick zu beleidigen. Und alle Hausangestellten bewegten sich so lautlos durch Wainwood, als wären sie imstande, sich aus dem Nichts heraus zu materialisieren. Eine Kunst, die sie immer besser beherrschten, je länger sie im Herrenhaus tätig waren. Benjamin war deutlich anzusehen, dass er nur zu gerne die steile Treppe des Gesindetraktes hi nabgestiegen wäre, um nachzusehen, was sich hinter der mit grünem Filz bezogenen Tür verbarg, die für ihn wie eine Grenze zu einer fremden Welt war. »Wird die Indianerin jetzt für immer dort unten bleiben?«, wollte er wissen.
Dieser Gedanke warf sofort die nächste Frage für ihn auf und dann noch eine und noch eine. Sie sprudelten dem kleinen Jungen schneller über die Lippen, als Penelope sie beantworten konnte. Claire stand mit einer Miene stummen Leidens neben den beiden, die Arme vor der Brust verschränkt, mit jedem Zoll eine liebreizende junge Dame in ihrer gestreiften Bluse mit den bauschigen Ärmeln. Das kindische Betragen ihrer jüngeren Geschwister schien ihr mit jedem Augenblick, der verstrich, mehr an den Nerven zu zerren. Entschlossen, sich nicht länger mit derartigen Torheiten abzugeben, wandte sie sich einem Strauß auf einer Anrichte zu und begann die herbstlichen Zweige und Blumen neu anzuordnen. Penelope fand, dass das Arrangement dabei vollends durcheinandergeriet und jeder weitere Handgriff von Claire die Unordnung in der Vase nur noch vergrößerte.
Im Entree hinter ihnen begann die Standuhr die halbe Stunde zu schlagen, und als Penelope sich nach einem Ausweg vor Benjamins Geplapper umsah, bemerkte sie, dass sie nicht die Einzigen gewesen waren, die die Ankunft des fremden Mädchens heimlich beobachtet hatten. In der Galerie im ersten Stock lehnte Julian, das Ziehkind der Goodalls, an einer der Säulen. Gedankenverloren betrachtete er die drei Geschwister. Als er Penelopes Blick bemerkte, schenkt er ihr ein mitfühlendes Lächeln. Doch anstatt sie von dem kleinen Plagegeist zu befreien oder ihr gegen Claires Sticheleien beizustehen, verschwand er genauso lautlos aus der Eingangshalle wie die schattengleichen Dienstboten. Mitunter, dachte Penelope, entzog sich Julian ihnen allen so gründlich, als wäre auch er imstande, sich unsichtbar zu machen, wann immer es ihm gefiel.
»Ich kann wirklich nicht noch mehr Zeit mit diesem Unsinn verschwenden«, ließ Claire über den nicht endenden Wortschwall ihres kleinen Bruders hinweg verlauten. Sie hatte von den Blumen abgelassen. Ihrem Tonfall nach zu urteilen, hatte das belanglose Geplänkel ihrer Geschwister bereits unzählige Stunden in Anspruch genommen anstatt nur weniger Minuten.
»Nicht auszudenken, wenn du dich nicht mehr rechtzeitig zum Mittagessen umziehen könntest«, rutschte es Penelope heraus. Ihrer Meinung nach verschwendete ihre Schwester lächerlich viel Zeit darauf, den Abbildungen in den Modemagazinen aus London und Paris nachzueifern, stets auf der Suche nach der idealen Schleife, dem perfekten Hut und den elegantesten Handschuhen. Claire hingegen schien der Überzeugung zu sein, dass Penelope im Gegenzug entschieden zu wenig Zeit auf ihr Äußeres verwendete.
»Etwas, das dir auch guttun würde.« Sie bedachte Penny mit einem prüfenden Blick vom Scheitel bis zur Sohle. »Gleichwohl sich die Mühe noch nicht einmal lohnen würde.«
»Wird die Indianerin bei uns bleiben?«, wollte Benjamin aufs Neue wissen, bevor Penelope etwas zur Ehrenrettung ihrer Garderobe ins Feld führen konnte. »Sie könnte mir zeigen, wie man ein Tipi baut und sich an einen Trapper heranpirscht.« Diese famose Vorstellung ließ seine Augen vor Aufregung strahlen. »Ich werde niemals wieder in meinem Kinderzimmer schlafen und Becky wird mich für immer und ewig vergeblich suchen …« Er streckte die kurzen Ärmchen in die Luft, um diese endlose Zeitspanne mit den Händen zu umschreiben. Becky war das unglückliche Kindermädchen,
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