Wainwood House - Rachels Geheimnis
Derrington es gut mit ihr meinte, verabscheute sie seinen sanften Tonfall und das unübersehbare Mitleid in seinem Blick.
»Ich kann reiten, schießen und kochen«, erklärte sie störrisch. Letzteres vor allem über einem Lagerfeuer, doch das verschwieg sie lieber. »Vater hat meine Zeichnungen an das Ägyptische Museum in Kairo geschickt und meine Kenntnisse in Geografie gelobt.«
»Wie steht es mit einem Instrument?«, hakte der Earl geduldig nach. »Mit Französisch? Den englischen Klassikern? Handarbeit?«
»Ich kann ein Zelt flicken!«
»Tatsächlich?«, vergewisserte sich Lord Derrington höflich und rang sich ein interessiertes Lächeln ab. Das schien nicht die Antwort gewesen zu sein, auf die er gehofft hatte. Er wedelte missmutig mit dem Brief in der Luft herum. »Ich kann Ihnen nicht verschweigen, dass es schwierig sein dürfte, Ihnen eine Anstellung als Gouvernante oder Gesellschafterin zu beschaffen, welche Ihnen doch zumindest eine gewisse Unabhängigkeit bringen würde.« Dass es ein Ding der Unmöglichkeit war, traf es weit eher, aber als englischer Gentleman war Charles Goodall um Höflichkeit bemüht. Er maß sie mit einem weiteren langen Blick. »Colonel Feltham hat vergessen, Ihr Alter zu erwähnen.«
»Ich bin sechzehn!« Während sie sprach, reckte Jane die Schultern zurück und das Kinn vor. Wenn sie doch nur ein wenig größer gewesen wäre! Aber daran konnten selbst die Absätze ihrer neuen Schuhe nichts ändern.
»Niemand würde ein so junges Mädchen seine Kinder unterrichten lassen«, erklärte Lord Derrington und unterließ es zu betonen, dass Jane dafür außerdem die nötigen Fertigkeiten fehlten. Selbst wenn eine Familie bereit gewesen wäre, über ihre dunkle Hautfarbe und ihre mangelnden Manieren hinwegzusehen. Er unterließ es in weiser Voraussicht auch, sich zu erkundigen, ob sie von einem Geistlichen der Kirche von England getauft worden war. Oder ob ihre Eltern auch vor dem Gesetz getraut worden waren.
»Leider hatte ich nicht das Vergnügen, Ihren Vater persönlich zu kennen. Tatsächlich ist dies die erste Nachricht von Colonel Feltham seit gut zwanzig Jahren.« Lord Derrington schien sich insgeheim zu wünschen, der Colonel hätte ihm einen formellen Weihnachtsgruß geschickt statt einem jungen Mädchen. »So leid es mir tut, ich weiß nicht, was ich für Sie tun kann. Vielleicht lässt sich in der Stadt eine Stelle für Sie finden.«
Viele Heranwachsende begannen noch früher zu arbeiten. Die Städte waren überschwemmt von ihnen und die meisten litten Hunger. Es bedurfte schon besonderer Fähigkeiten oder persönlicher Empfehlungen, um wenigstens als Verkäuferin in einem der neuen Kaufhäuser zu arbeiten, oder als Sekretärin in einem Büro. Alle übrigen hielten sich als Laufburschen oder Zeitungsjungen über Wasser, als Wäscherinnen oder Blumenmädchen. Sie schufteten in den Fabriken oder trugen Lasten am Hafen. Und das waren noch die ehrbareren Stellen.
Jane verbat sich, den Blick zu senken oder sonst eine Schwäche zu offenbaren, obwohl sie wusste, dass sie um nichts in der Welt mit leeren Händen den Rückweg antreten durfte, einer ungewissen Zukunft entgegen. »Colonel Feltham hat mich bis zu Ihnen nach England geschickt, weil er darauf vertraut hat, dass Sie mir helfen würden«, erklärte sie trotzig.
»Und das hätte er nicht tun dürfen.« Lord Derrington starrte missmutig auf den Brief. Er war ein Mann, der stets darum bemüht war, seiner Pflicht Genüge zu tun, und darum, ein angenehm ereignisloses Leben zu führen. Seine Gnadenlosigkeit beschränkte sich auf die Fuchsjagd und auf die Entschlossenheit, mit der er am Abend nach dem Dinner einem guten Whisky zu Leibe rückte. Er schien einen Augenblick mit sich zu ringen, bevor er nach Frost klingelte. Der Butler erschien augenblicklich und so lautlos durch eine der beiden Türen zur Bibliothek, als hätte er bereits davor gewartet.
»Mr Frost, ich frage mich, ob es nicht an der Zeit wäre, Marys Stelle neu zu besetzen?«, sagte er in einer Stimmlage, die keine Frage beinhaltete.
»Es wurde eine entsprechende Anzeige aufgegeben«, teilte Frost ihm ausdruckslos mit.
»Gewiss könnte man doch stattdessen auch ein junges Mädchen anlernen«, regte sein Dienstherr an.
»Mit Verlaub, doch diesen Mangel an Professionalität haben wir bisher zu vermeiden gewusst.«
»Zufälligerweise ist Miss Swain auf der Suche nach einer Stelle.«
Obwohl Frost sich bemerkenswert gut unter Kontrolle hatte, glaubte Jane
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