Wainwood House - Rachels Geheimnis
Diese unglückliche junge Frau wusste nicht, an welche uralten Mächte sie rührte. Nur daraus ist all das Elend erwachsen. Sie hätten sich uns schon viel früher anvertrauen sollen!«
»Raus!« Dieses Mal war Felthams Stimme nicht mehr zu überhören. Sie schnitt mit militärischer Schärfe durch die abgestandene Luft in der Kapelle. »Raus hier!« Feltham griff in seine Tasche. Doch bevor Penny sehen konnte, was er hervorzog, bekam sie einen Krampf im rechten Bein. Sie strauchelte auf dem Sims und verlor ihr Gleichgewicht. Im Fallen versuchte sie vergeblich, sich an einer Efeuranke festzuhalten. Nyles wollte ihren Sturz abfangen, aber obwohl er sich ihr mit ritterlicher Entschlossenheit entgegenwarf, gelang es ihm nicht, sie wie eine junge Braut in seinen Armen aufzufangen. Stattdessen gab es ein wildes Durcheinander aus Röcken, spitzen Ellenbogen und unziemlichen Berührungen. Gemeinsam gingen sie mit einem harten Aufprall zu Boden.
Sie hatten genug Lärm gemacht, um bis in die Kapelle gehört zu werden, doch es war nur Colonel Feltham, der um das alte Gemäuer herumgelaufen kam. Er blieb heftig atmend vor ihnen stehen, mit einem entsicherten Revolver in der Hand. Als er seine Nichte und Lord Nyles am Boden erkannte, wich die grimmige Entschlossenheit in seinem Gesicht einem Ausdruck wachsender Verärgerung.
»Ich würde es sehr begrüßen, wenn Sie darauf verzichten würden, außer sich selbst auch noch die Familie Goodall in Gefahr zu bringen, Nyles«, eröffnete er dem jungen Mann so selbstverständlich, als würden sie einen altvertrauten Streit fortsetzen.
»Ich versichere Ihnen, dass es nicht in meiner Absicht lag …«, versuchte Lord Nyles sich von seiner unwürdigen Position aus zu erklären. Penelope lag immer noch halb ausgesteckt über ihm und rieb sich ihren schmerzenden Ellenbogen, mit dem sie im Fallen gegen einen Grabstein gestoßen war. Der Colonel besaß den Anstand, so zu tun, als würde er regelmäßig gestürzte junge Damen auf dem Friedhof antreffen. Er streckte ihr seine Pranke entgegen und half ihr formvollendet wieder auf die Füße. Lord Nyles musste allein auf die Beine kommen. Feltham warf ihm mit finsterer Miene einen Schlüsselbund zu, den der junge Mann geschickt auffing.
»Machen Sie sich nützlich und schließen Sie ab«, verlangte der Colonel ruppig von ihm, während er seiner Nichte den Arm anbot, um sie auf den Pfad zur Kirche zurückzuführen. Die Gemeinde war gerade dabei, sich in alle Richtungen zu zerstreuen. Lord Derrington stand zusammen mit der restlichen Familie und dem Pfarrer vor dem Portal. Der Plätzchenkorb an Lady Derringtons Arm war leer.
»Penelope war so liebenswürdig, mich zu Rachels Grab zu begleiten«, erklärte Feltham, ohne mit der Wimper zu zucken, als sie in den Kreis ihrer Verwandten traten. Ein Stück hinter ihnen kam Lord Nyles den Weg hinab. »Und unser junger Freund hat eine Vorliebe für Kirchengeschichte und gotische Gräber«, fügte er staubtrocken hinzu. »Ich wurde von ihm auf dem Weg von Rom bis nach England durch ein halbes Dutzend Kathedralen gezerrt.«
Claire machte sich umgehend daran, Lord Nyles nach den sakralen Prachtbauten des Abendlandes zu befragen, und Tante Mildred zupfte Penny mit spitzen Fingern ein Efeublatt aus ihrem Hutschleier. Auf dem Rückweg waren alle so durchgefroren, dass sie es eilig hatten, endlich wieder ins Warme zu kommen. Niemand stellte aufdringliche Fragen. Auf diese Weise blieb Penelope zwar unbehelligt, doch sie fand auch keine Gelegenheit mehr, um von Lord Nyles zu erfahren, was er überhaupt auf dem Friedhof zu suchen gehabt hatte. Ihr einziger Trost war, dass er umgekehrt auch keine Gelegenheit fand, sie darüber auszufragen, was sie auf ihrem Lauschposten am Fenster gehört hatte. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als sie während der Weihnachtsfeierlichkeiten noch einmal heimlich abzufangen.
8. KAPITEL Bescherung
D och für unheilvolle Geheimnisse und konspirative Treffen blieb für den Rest des Weihnachtstages keine Zeit mehr. Wainwood empfing sie im warmen Glanz knackender Kaminfeuer und brennender Kerzen. Die Fenster leuchteten ihnen bereits entgegen, als sie die Allee hinabfuhren. Zu beiden Seiten des Weges schaukelten in den nackten Zweigen der Bäume gewaltige rote Lampions im Wind. Auf den zugefrorenen Teichen fuhren die Gärtnerburschen auf eisernen Kufen Schlittschuh, und in der eisigen Luft lag bereits eine Ahnung von Schnee, ohne dass eine einzige Flocke zu Boden fiel.
Die
Weitere Kostenlose Bücher