Wainwood House - Rachels Geheimnis
Kandidaten in ihrem Tagebuch notiert hatte, war sie noch nicht als Debütantin am königlichen Hof empfangen worden. Somit galt sie noch nicht als erwachsen und musste sich in Geduld üben, bis ihre Zeit gekommen war. Doch ab ihrer Vorstellung vor seiner Majestät, König Edward, und seiner Gemahlin Alexandra würde von ihr erwartet werden, so viele Bälle wie möglich zu besuchen und keinen Tanz auszulassen. Es hatte ganz den Anschein, dass der Knicks vor dem Monarchen ein Mädchen in eine Frau verwandeln konnte. Bis dahin allerdings galt es, den Ruf der kindlichen Unschuld um jeden Preis zu wahren.
Auch Penny wäre gern auf den Ball gegangen, um an einem Glas kühlen Champagner zu nippen und die glänzenden Seidenkleider zu bewundern, doch sie setzte weit weniger Hoffnungen in eine durchtanzte Nacht als Claire. Sie erwartete nicht, zu jedem Tanz aufgefordert zu werden, und wenn doch, dann würde sie vor lauter Aufregung nicht so schwerelos über das Parkett schweben wie ihre Schwester. Also genoss Penny an diesem Weihnachtsmorgen die aufgeräumte Stimmung auf Wainwood und einen Berg duftender Waffeln zum Frühstück, ohne sich in sinnlosem Bedauern zu ergehen.
Als die weihnachtliche Gesellschaft nach dem Frühstück in die Kutschen und Automobile stieg, um zum Gottesdienst zu fahren, reichten ihnen die Diener Pelze und Decken in die Wagen. In der kalten, klaren Luft gefror ihr Atem. Die Scheiben der Kabinen waren ebenso eisig wie die dunklen glänzenden Lederpolster. Die Motoren grollten emsig. Die Pferde stampften mit den Hufen auf den harten Boden. Dann endlich zogen die Wagen in einer kleinen Kolonne hintereinander die Allee hinab und durch die überfrorenen Felder bis zur Kirche.
Das wehrhafte mittelalterliche Gotteshaus war bis auf die letzte Bankreihe besetzt. Einige Pächter standen entlang der Wände, weil sie keinen Platz mehr gefunden hatten. Das ganze Dorf trug seinen Sonntagsstaat mit gestärkten Krägen und ordentlich gekämmten Haaren. Die Frauen hatten Hauben oder Hüte mit Stoffblumen auf dem Kopf. Die Männer hielten ihre Bowler in den Händen. Einige hatten sich warme Schals um den Hals geschlungen oder trugen Handschuhe mit abgeschnittenen Fingern zu ihrem Festtagsjackett, denn auch in der unbeheizten Kirche herrschte eine klirrende Kälte. Doch der feierliche Gottesdienst am Weihnachtsmorgen war ein Ereignis, das sich keiner entgehen lassen wollte, auch wenn die Kühe im Stall genauso wie an jedem anderen Tag des Winters gefüttert werden mussten.
Allein die unglaubliche Ansammlung von vier Automobilen und drei Kutschen vor der Kirche war das Erscheinen wert gewesen. Flüsternd wurden in den Bank reihen Spekulationen über die Gäste der Goodalls angestellt und Hälse gereckt, um einen besseren Blick auf ihre Garderobe werfen zu können. Das Kirchenschiff war mit Stechpalmenzweigen und goldenen Bändern geschmückt. Die Flammen der dicken Wachskerzen verliehen dem Altar ein festliches Strahlen.
Die Predigt des jungen Pfarrers war erfreulich kurz und wurde noch von dem Optimismus seiner ersten Jahre im Amt getragen. Danach traten die Sternensinger des Dorfes vor Lord Derrington. Sie hatten sich Kränze aus Zweigen und Papierkronen auf die Mützen gesetzt. Einer von ihnen hielt einen Stecken mit einem abgestoßenen, gelb lackierten Holzstern auf der Spitze. Mit mehr Inbrunst als Wohlklang schmetterten die Kinder genau dieselben Weihnachtsweisen wie in jedem Jahr. Lord Derrington lauschte ihnen mit würdevollem Ernst und seine Frau hielt bereits einen Korb mit Plätzchen für die Sänger bereit, als Penelope entdeckte, dass der Colonel nicht mehr länger auf seinem Platz saß. Alle Augen waren auf die Kinder gerichtet, und niemand sonst bemerkte, wie Feltham den Gang des Seitenschiffes hinabschlich. Er zog die Kirchentür einen Spaltbreit auf und schlüpfte erstaunlich behände, angesichts seines massigen Körpers, hinaus.
Penny verschwendete keine Zeit mit nutzlosen Abwägungen, sondern gab dem Impuls, ihm zu folgen, nach. So unauffällig wie möglich schlängelte sie sich aus ihrer Bankreihe und erntete lediglich von Tante Mildred einen strafenden Blick. Anstatt die ganze Kirche zu durchqueren, trat sie durch die Seitentür neben der Sakristei und entkam auf demselben Weg, den sie vor einigen Wochen schon einmal genommen hatte, als sie mit Julian hier gewesen war. Auf dem Kirchhof lagen die Reihen der Gräber verlassen da. Der Gesang der Sternensinger war nur noch gedämpft zu hören und
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