Wainwood House - Rachels Geheimnis
festliche Gesellschaft verbrachte einen außergewöhnlich gelösten Nachmittag mit Eierpunsch und Scharadespielen im Salon. Julians Schulfreund bewies nicht nur eine Vorliebe für farblich gewagte Krawatten, sondern auch eine melodische Singstimme. Zusammen mit Claire trug er in perfekter Harmonie Weihnachtslieder am Klavier vor. Je länger der Nachmittag sich hinzog und je mehr Punsch getrunken wurde, umso energischer stimmten die übrigen Gäste in die Refrains ein. Ambrose White, der mit seinem vornehmen Cousin angereist war, ließ sich dazu verpflichten, mit Tante Mildred mehrere Partien Whist zu spielen. Vermutlich bereute er seine Nachgiebigkeit bereits, als Hector darauf bestand, mit ihm auf dem Sofa zu sitzen und sein hässliches Köpfchen hingebungsvoll an sein Bein zu schmiegen . Als wäre danach kein anderes Leumundszeugnis mehr vonnöten, ließ Tante Mildred sich für den Rest der Feiertage huldvoll dazu herab, über den Makel von Mr Whites ordinärem Gewerbe hinwegzusehen.
Der Abend begann mit einem weihnachtlichen Festmahl. Da Penelope nach dem Essen auf ihr Zimmer gehen musste, hielt sie sich weder beim Truthahn mit der Apfel-Maronen-Füllung noch beim flambierten Pudding zurück. Als der letzte Gang abgetragen wurde, fühlte sie sich auf eine höchst angenehme Weise satt, ja, sogar ein bisschen angeheitert, nachdem den ganzen Abend hindurch Trinksprüche angebracht worden waren. Der geschmückte Baum erstrahlte in einem friedlichen Glanz, der sogar Colonel Felthams grimmiges Gesicht und Mr Frosts scharfe Züge weicher malte.
Als sich die Festgesellschaft erhob, um zum Ballsaal hinüberzugehen, und auf dem Kies vor der Freitreppe immer mehr Gäste eintrafen, verspürte Penny höchstens eine hauchzarte Sehnsucht nach einer Welt, die ihr noch für mehr als ein Jahr verschlossen bleiben würde. Sie blieb im Speisesaal zurück und sah die Damen am Arm ihrer Tischherren durch die weitgeöffnete Tür entschweben, begleitet von verhaltenem Gelächter, artigen Komplimenten und den fernen Klängen einer Geige.
Als die Standuhr in der Eingangshalle halb zwölf schlug, war Penelope längst in ihrem Zimmer. Hanna hatte ihr beim Ausziehen geholfen, bevor sie die Lampen gelöscht und eine gute Nacht gewünscht hatte. Doch auch als Hanna gegangen war, lauschte Penny die ganze Zeit über auf die leise Musik der Streicher aus dem Ballsaal. Die ruhigeren Passagen waren nur zu hören, wenn sie bis auf den dunklen Korridor hinaustrat. Natürlich hatte sie noch nie einen Ball gesehen. Als sie jünger gewesen waren, hatte Claire ihr manchmal vor dem Zubettgehen Zeitungsartikel über die glanzvollen Hofbälle seiner Majestät vorgelesen oder die Ballszenen aus den Romanen von Jane Austen. Doch tintenschwarze Buchstaben und trockenes Papier waren weit duldsamer, als Penny sich in diesem Augenblick fühlte.
Sie holte sich eine kratzige Strickjacke aus dem Schrank, die sie über ihr langes Nachthemd zog, und ein paar dicke Wollsocken, die ihr altes Kindermädchen für sie gestrickt hatte. Penny plante keineswegs, so gesehen zu werden, doch der Weg, den sie einschlagen wollte, war zugig und düster. Mit mehr Verwegenheit, als sie nach all den Ermahnungen der letzten Wochen tatsächlich empfand, warf sie sich ihren geflochtenen Zopf über die Schulter zurück und schlich den Korridor hinab. An diesem Abend brannten noch vereinzelt Lampen auf den Fluren und an den Treppen, damit am frühen Morgen jeder Gast den Weg zurück in sein Schlafzimmer finden würde, doch vorerst lagen die roten Läufer verlassen da. Dank jahrelanger Übung begegnete Penny weder den Hausdienern mit ihren schweren Tabletts noch den Gästen in ihren prächtigen Abendroben. Sie suchte sich ihren Weg durch verwaiste Salons und über abgelegene Korridore. Zuletzt stieg sie eine unbeleuchtete Treppe hinauf. Die Tür zu der kleinen, altersschwachen Empore über dem Ballsaal war nur angelehnt, und als Penny hindurchschlüpfte, entdeckte sie, dass sie nicht allein hier war. Claire hatte sich hinter die Brüstung gekauert und beobachtete zwischen den Streben hindurch das festliche Treiben. Sie trug einen langen apfelgrünen Morgenmantel über ihrem Nachthemd und hatte sich ihre blonden Locken über Nacht auf Papillons rollen lassen, die bei jeder Bewegung auf ihrem Kopf wippten. Noch während Penny auf der Schwelle zauderte, sagte Claire, ohne aufzusehen: »Wenn du dort noch länger stehen bleibst, könnten sie dich von unten bemerken.«
Das gab den Ausschlag.
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