Wakolda (German Edition)
dauerte zwar weiter an, aber die Hagelkörner verursachten jetzt nur noch Schmerzen und rissen nicht gleich Wunden. Enzo war Eva beim Aussteigen behilflich, hielt ihr schützend ein Blechstück über den Kopf und schrie seinen Kindern zu:
»Los! Jetzt lauft!«
Kreischend rannten die drei los, liefen im Zickzack, um dem Hagel auszuweichen. Auf den ersten Metern setzten ihnen die Hunde nach, als seien sie Jagdbeute; einer schnappte nach Herlitzkas Fuß, und schon hatte er ihn im Maul. Erst als ihr Besitzer sie zur Ordnung rief, zogen sie mit eingeklemmtem Schwanz ab. Lilith stand da und starrte dem Hund hinterher, der sich mit dem Puppenfuß davonmachte. Verstört blickte sie auf ihre Puppe hinab, die nun hinken würde, bevor sie ihren ersten Schritt getan hatte. Als eine Ladung Hagel sie schmerzhaft im Nacken traf, beeilte sie sich jedoch, den anderen hinterherzulaufen.
José saß noch in seinem Wagen und verfolgte fasziniert jeden einzelnen von Liliths Schritten (die selbst in ihrer Verstörung eine einzige Wonne war), da klopfte Enzo an die Scheibe. Schnell steckte er den Colt in die Hose und griff nach dem kleinen Koffer und dem Hut, den er durch ein leichtes Kopfnicken so ins Gesicht rutschen lassen konnte, dass er seine Augen verdeckte. Draußen schrien alle gegen das Gewitter an:
»Und was nun?«
»Abwarten!«, brüllte Enzo. »Bis es besser wird!«
»Und wenn es Nacht wird?«
Enzo zuckte mit den Schultern, die Situation überforderte ihn, er war ganz rot im Gesicht. Der Deutsche stand stocksteif da, Hut auf dem Kopf, Hände in den Hosentaschen. Nüchtern überschlug er seine Möglichkeiten. Von dort, wo er stand, würde ihn der Hausbesitzer weder richtig sehen noch seinen Akzent hören können, der Aufprall der Eisbrocken auf dem Blechdach des Schuppens übertönte alles. Enzo drehte sich zu ihm um.
»Ich würde Sie ja gern einander vorstellen«, schrie er dann zu dem Besitzer des einfachen Holzhauses hinüber, »aber ich kenne seinen Namen gar nicht …«
»Besser so«, antwortete der. »Man sollte gar nicht so viel über die Leute wissen.«
Der Mann hatte keinen Augenblick lang die Stimme angehoben. José las ihm die Worte von den Lippen ab, es war unmöglich, sie zu verstehen.
Drinnen im Haus stand die junge Frau vor einem kümmerlichen Feuer, riss eine vergilbte Seite nach der anderen aus einem Buch, knüllte sie zusammen und warf sie in die Flammen. Sie stand barfuß auf dem Lehmboden, aus einer ihrer Hosentaschen schaute ein feuchter Lappen hervor. Nach einem halben Dutzend geknüllter Papierkugeln loderte das Feuer wieder auf. Das Mädchen legte das Buch auf einen Stapel, der in einer Ecke des Raums darauf wartete, auseinandergenommen zu werden, und wischte mit dem Lappen über den Ledereinband. Lilith stand kaum einen halben Meter entfernt und versuchte, den Titel des Buches zu entziffern:
Das Wissen der Mapuche
. Dann entdeckte sie in einer anderen Ecke einen kleinen Altar, auf dem eine handbemalte Gipsstatue und darum herum drei beinahe heruntergebrannte Kerzen standen. Ein paar Wüstensteine dienten als Opfergaben, es waren einfache Steine, wie sie hier draußen tausendfach zu finden waren; die junge Frau rieb sie mit besonderer Sorgfalt ab, einen nach dem anderen, als handele es sich um Reliquien. Lilith hob den Blick zur Decke, von der zwei ganze Schinkenkeulen und ein Dutzend Würste herabhingen. In ihrem Rücken wechselten die Erwachsenen vereinzelte Sätze, doch das Gespräch verebbte immer wieder schnell. Keiner hier verstand sich auf Konversation, allenfalls José, der den Mund nicht aufmachte. Er beschränkte sich darauf, sie alle zu beobachten, und fragte sich, wie ein Volk von Bastarden, das Ergebnis derart unpassender und unerwünschter Vermischungen war, über Jahrtausende unter derartig ungünstigen Bedingungen hatte überleben können. Eine Rasse, die vom Gift der Vermischung verdorben war, das man ihr vor über zweitausend Jahren verabreicht hatte.
Nicht umsonst hat Darwin gesagt, diese Gegend sei von Gott verdammt
, dachte er.
Aus diesem wilden Mischmasch waren beinahe alle Völker des Kontinents, all diese hybriden Abkömmlinge hervorgegangen. So standen sie nun hier vor ihm und ahnten nichts von der Ursünde der Vermischung, obwohl die animalischen Züge der niederen Rassen deutlich vorhanden waren: Bei Enzo war es die Nase, bei Eva die über den ganzen Körper versprengten Leberflecke und Muttermale, bei Lilith die Körpergröße, bei den anderen das indianische
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