Wakolda (German Edition)
ab; der kleine Bruder, für den die lange Strecke besonders quälend war, wimmerte kläglich vor sich hin. Lilith kurbelte die Scheibe hinunter, streckte die Nase in die heiße Luft hinaus und ließ sich das Haar ins Gesicht wirbeln. Ihre Tränen sollte niemand sehen.
»In jeder Familie gibt es einen Verrückten und einen, der immerzu heult«, hatte ihre Großmutter bei ihrer letzten Begegnung auf Deutsch erklärt. »Bei uns bin ich die Verrückte und du die Heulsuse.«
Lilith hatte genickt. Sie sprach kein Deutsch, verstand es aber. Eva hatte immer darauf geachtet, dass ihre Kinder auch ihre Muttersprache zu hören bekamen. Lilith wusste zwar nicht mehr, weshalb sie damals geweint hatte, aber an das Lied, mit dem ihre Großmutter sie darauf in den Schlaf sang, erinnerte sie sich genau.
Schlaf, Kindlein, schlaf!
Der Vater hüt’ die Schaf
,
Die Mutter schüttelt’s Bäumelein
,
Da fällt herab ein Träumelein
.
Schlaf, Kindlein, schlaf!
»Du brauchst den Text nicht zu verstehen«, hatte die Großmutter gesagt, »hör einfach auf die Melodie.«
Wenn sich Mutter und Großmutter allerdings stritten und so schnell sprachen, dass die einzelnen Worte in einem Schwall von R-Lauten untergingen, dann verstand Lilith kein Wort. Im letzten Sommer hatte die Großmutter kaum mehr das Bett verlassen, hatte sich aus ihrem Körper wie aus Haus und Garten zurückgezogen. Jahrelang hatte sie Eva in den Ohren gelegen, sie sollten doch wieder zu ihr in den Süden ziehen, doch je mehr die Großmutter drängte, desto strikter weigerte sich Eva.
»Ich werde wohl erst sterben müssen, damit du wieder zurückkommst«, hatte sie immer gesagt.
Und so war es gekommen.
Eines Nachmittags Anfang Dezember hatte Enzo die Kinder zu sich gerufen und ihnen mitgeteilt, dass sie im neuen Jahr nicht mehr in Buenos Aires zur Schule gehen, sondern in den Süden ziehen würden. Den Vormittag hatte er noch damit verbracht, seine Werkstatt, in der Dutzende von Uhren in allen Größen und Formen lagerten, auszuräumen und alles in Kisten zu verpacken. Ruhe hatte er schon lange nur noch dort gefunden; inmitten all der tickenden Uhren, die die Zeit in unendlich viele kleine Scheibchen unterteilten, hatte er sich geborgen gefühlt. Hinten in einer Ecke, die vor Eva sicher war, hatte er die Behälter mit dem Porzellan, die Pinsel, die Gussformen und den kleinen Ofen untergebracht, in dem er in seinen freien Stunden die eine oder andere Puppe brannte. Doch die Verhältnisse verkehrten sich zunehmend. Immer häufiger verbrachte Enzo seine Nachmittage damit, die Konturen einer Lippe oder ein Paar Augenbrauen zu verfeinern, einen Schönheitsfleck über einen Mund zu malen oder ein Paar Glasaugen einzusetzen; es kam auch vor, dass er dringend die Arbeit an einem Nylonnetz und dem dazugehörigen Haarschopf aus Hanf beenden musste oder sich dem sorgfältigen Schliff der porzellanenen Puppenglieder widmete, bis die Haut zart wie die eines Neugeborenen war ... Stunden um Stunden verwandte er auf diese Arbeiten, anstatt sich um die kaputten Uhren zu kümmern. Seine neueste Erfindung (den Puppen dort, wo das Herz gesessen hätte, eine Uhr einzusetzen) hatte ihn so sehr in Beschlag genommen, dass er beim Abendessen tagelang kein Wort mehr sprach. Unentwegt grübelte er darüber, wie er die Uhr im Inneren der Puppen befestigen könnte, und malte die Entwürfe dazu sogar mit der Gabel ins Essen. Wenn er Eva aus glasigen Augen ansah, wusste diese genau, wo er mit seinen Gedanken war. Diese Puppen, die ihm den Schlaf raubten, erregten ihre Eifersucht schlimmer, als jede Frau aus Fleisch und Blut es hätte tun können. Lilith hatte unzählige Male mit angehört, wie sich die beiden deswegen stritten:
»Deine dämlichen Puppen bringen überhaupt nichts ein! Genau wie diese ganzen Räderwerke und Federn, die du reparierst! Da könnten alle Uhren in Buenos Aires auf einmal stehenbleiben, und wir würden nichts davon merken!«
Wie meist reagierte Enzo gelassen:
»Außer dass wir in dem Fall ziemlich schnell Millionäre wären ...«
Eva hatte nichts erwidert. Am Tag darauf eröffnete Enzo den Kindern, sie würden die Pension seiner Schwiegereltern übernehmen. Über die mit Eva getroffene Abmachung, dass er sich in Ruhe seinen Puppen widmen durfte, sofern sich eine weitere Einkunftsquelle fand, die den Haushalt aufbesserte, verlor er kein Wort. Lilith sah gleich, dass es sinnlos gewesen wäre, zu protestieren. Es war bereits beschlossene Sache, die Mutter hatte die
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