Wakolda (German Edition)
grinste die erschöpften Reisenden mit ihren schiefen Zähnen an. Ihr Körper hatte seit dem letzten Sommer unerwartet weibliche Formen angenommen, Tomás machte große Augen. Mutter und Tochter hatten beinahe den gesamten Brennholzvorrat verheizt, um das Haus für die Familie warm zu bekommen. Allein in dem großen Haus, hatten sie schon nicht mehr gewusst, wie es weitergehen sollte, als Eva telegrafierte, dass sie allesamt kommen und bleiben würden. Und nun, als sie endlich da waren, fand nur Lilith den Mut, in die große Stube zu treten und zu fragen, wie die Großmutter eigentlich gestorben war.
»Einfach so, im Schlaf.«
»Hier drinnen?«
»Ja, hier in diesem Bett. Deine Großmutter hat doch immer ihren Willen durchgesetzt.«
»Stimmt. Aber was ist das denn hier?«
Lilith zeigte auf ein altes, stattliches Puppenhaus, das gleich neben dem Bett aufgebaut war. Von Spinnweben und Ungeziefer befreit und einer gründlichen Reinigung unterzogen, erstrahlte es nun in neuem Glanz. Ein solches Prachtexemplar war Lilith noch nie zu Gesicht gekommen. Entzückt schaute sie durch die kleinen Fensterchen im Erdgeschoss auf einen winzigen Flügel, der ebenso bezaubernd war wie all die übrigen kleinen Einrichtungsgegenstände.
»Ich habe das Haus beim Aufräumen auf dem Dachboden gefunden«, erklärte Tegai. »Es hat deiner Mutter gehört. Deine Großmutter hat mich gebeten, es für dich herzurichten.«
Lilith verbrachte die Nacht in dem Bett ihrer Großmutter, das neue Puppenhaus an ihrer Seite; sie wagte aber kaum, diese beängstigend reinliche Miniaturwelt zu berühren. Sie hatte Wakolda fest im Arm und den Geruch von Kernseife in der Nase. Nach der Großmutter roch die Bettwäsche nicht mehr, denn Luned und Tegai hatten die Laken in die Mangel genommen, bis der Tod aus jeder Faser gewaschen war. Kurz nach Sonnenaufgang wurde Lilith von Motorengeräusch wach. Ein Wasserflugzeug kreiste über dem Nahuel Huapi und bereitete sich auf die Landung vor. Wieder fand sich Lilith im ersten Moment nicht zurecht. Beim Blick auf die Mapuche-Puppe in ihrem Arm fiel ihr alles ein, sie sprang aus dem Bett und in die Regenstiefel und lief in großen Sätzen die Treppe hinunter in den Garten. In den vergangenen Sommern hatte sie stundenlang einfach dagesessen und auf die Flugzeugmotoren gelauscht, und sobald sie einen hörte, war sie so schnell wie möglich zur Anlegestelle hinuntergelaufen. Manchmal aber hatte sie tagelang vergeblich gewartet. Wenn sie diesmal gleich am ersten Tag von einem willkommen geheißen wurde, durfte sie das auf keinen Fall verpassen. Sie schlug sich durch die Büsche, kletterte über ein paar umgekippte Baumstämme und lief durch das hohe Gras den Uferhang zum See hinunter. Die Luft war eisig, schnell war sie putzmunter. Gerade berührte das Flugzeug die Wasseroberfläche. Auch Tomás war bereits zur Stelle. Über seine Stirn zog sich ein hauchdünner, von einem Dorngebüsch verursachter Kratzer; ein winziger Blutstropfen rann ihm die rechte Augenbraue hinunter.
»Acht, sieben, sechs, fünf, vier …«, zählte er atemlos.
Lilith fiel in den Countdown ein und zählte die letzten drei Ziffern extra schnell, die Null sollte genau mit der Landung des Flugzeuges zusammenfallen. Es setzte sanft auf der Wasseroberfläche auf, glitt zu der Anlegestelle des Nachbargrundstücks und kam zum Stehen. Das Haus lag etwa zweihundert Meter vom Ufer entfernt am Fuß des Berges. Vom Hauptweg aus kaum zu erkennen, war es nur über einen schmalen Trampelpfad durch dichtes Gestrüpp zu erreichen. Wer sich nicht auskannte, konnte den Landweg kaum finden. So blieb der Zugang über Luft und Wasser, das Wasserflugzeug war das perfekte Verkehrsmittel. Einmal hatte die Großmutter erzählt, die Witwe des Besitzers – ein Schweizer Siedler der ersten Stunde – habe das Haus wenige Monate nach dem Tod ihres Mannes an einen Ausländer verkauft. Damals hatte sich die Stadt in rasantem Tempo vergrößert, jeden Tag waren Fremde aufgetaucht, die sich in Bariloche niederlassen und ein neues Leben beginnen wollten. Die Alteingesessenen trugen eifrig jede Information über die Neuankömmlinge zusammen. Die Male, die der Besitzer des Nachbarhauses sich hatte blicken lassen, waren allerdings an einer Hand abzuzählen. Man wusste nichts über ihn. Lilith fröstelte in ihrem Schlafanzug und konnte einen kurzen Blick auf die Passagiere des Flugzeuges erhaschen. Ein Mann mit dunkler Sonnenbrille und eine Dame mit breitkrempigem Hut saßen
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