Wakolda (German Edition)
Hölle nichts mehr hören und sehen.
»Lass uns bitte fahren, Enzo«, drängte Eva.
Der nass gewordene, angeschlagene Motor tat sich schwer. Schon fürchteten sie, einen weiteren Tag an diesem Ort bleiben zu müssen, da sprang der Motor an. Tomás atmete erleichtert auf; er hatte die ganze Nacht lang das Gefühl gehabt, die beiden Brüder würden jeden Moment mit dem Messer auf ihn losgehen. Lilith hingegen kreuzte die Finger. Unter der Spitze ihres Kleides schlug ein wahres Abenteurerherz. Schon hatte die staubige Trockenheit wieder die Oberhand gewonnen, nichts deutete auf die sintflutartigen Regengüsse hin. Nach jahrelanger Dürre hatte die ausgetrocknete Erde jeden Tropfen Wasser aufgesogen wie ein Schwamm. Nur die Farben hatten sich gewandelt: Die Büsche leuchteten in einem kräftigen Grün; das Schuppendach glänzte, und die Straße war wieder schwarz, in wenigen Metern Entfernung spiegelte sich die Luft. Weder Cumín noch seine Söhne erkundigten sich, ob sie Wasser bei sich hatten; ihre Reserven würden sie nicht mit ihnen teilen. Mit unbewegter Miene standen sie da und sahen den beiden sich immer weiter entfernenden Autos hinterher. Vorn Cumín, mit dem Kompass in der Hand, einige Schritte hinter ihm Nahuel und Lemún, das Comic-Heft mit dem Indianermassaker in der Hose des Älteren versteckt, und schließlich Yanka, die allein in der Eingangstür stand und wartete.
5
Nach dreißig Kilometern streckte Enzo die Hand aus dem Fenster und machte Zeichen, dass er auf den Randstreifen fahren würde. José hielt in angemessenem Abstand hinter ihm. Lilith und ihr Bruder sprangen aus dem Auto und stürzten hinter ein paar spärlich belaubte Büsche. Von seinem Auto aus hatte José gute Sicht auf Lilith, die den Rock ihres Kleides bis zur Taille raffte und mit gespreizten Beinen in die Hocke ging. Der Busch, hinter dem sie sich zu verbergen suchte, war so ausgedörrt, dass er kaum Phantasie brauchte, um sich ein vollständiges Bild von ihrem Körper zu machen. José hegte eine besondere Vorliebe für die Ausscheidungsakte seiner Untersuchungsobjekte. Ein Kollege hatte das Perversion genannt, er selbst fand, dass er in diesen Augenblicken, in denen sich sein Gesicht vor Anspannung oder Lust zu Grimassen verzog, den Gegenstand seines Interesses erst voll und ganz erfasste. Einzelheiten waren zwar nicht zu erkennen, aber er konnte erahnen, wie Lilith jetzt die Augen schloss und ein Lächeln der Erleichterung auf ihr Gesicht trat. Wie sie sich kurz abschüttelte, bevor sie ihr leichtes Blümchenkleid achtlos über ihr Hinterteil rutschen ließ, konnte er hingegen deutlich sehen. Sie machte einen Satz über die kleine Pfütze zu ihren Füßen und hüpfte ganz unbefangen und nichtsahnend von ihrer bezaubernden Schönheit zum Auto zurück. Sie lächelte José zu und wäre zu ihm in den Wagen geklettert, hätte es auf der kurzen Strecke bis zu diesem ersten Halt nicht den Streit mit den Eltern gegeben.
»Er ist doch gar kein Fremder!«
»Doch! Natürlich ist er ein Fremder! Einer, der zufällig zusammen mit uns übernachtet hat! Nichts weiter!«
»Aber ...«
»Du fährst auf keinen Fall bei ihm mit, Lilith«, erklärte Eva leise, aber bestimmt.
Das war genau der Ton, auf den eine Strafe zu folgen pflegte, also hielt Lilith den Mund und starrte mit Schmollmiene zum Fenster hinaus. Ihr Vater atmete schwer. Der Schweiß stand ihm im Nacken, und seine Haut war stark gerötet. Noch lagen endlose eintönige Kilometer vor ihnen, der größte Teil davon unasphaltiert. Lilith konnte sich bestens daran erinnern, wie schlechtgelaunt sie alle im letzten Sommer auf dem letzten Stück gewesen waren. Die kleinste Berührung, jedes falsche Wort hatte zum Streit geführt. Jetzt sah sie in der Ferne einen offenen Lastwagen von einem kleinen Hof herunterfahren, auf der Ladefläche fünf Männer. Sie stellte sich vor, es sei der Wagen, der Cumín und seine Söhne zu einem weiteren Arbeitstag abholte.
»Da vorn ist Schluss«, seufzte Enzo mutlos, als am Horizont das Ende des asphaltierten Streckenabschnitts auftauchte. Von dort an würde die Straße nur noch aus Lehm und Schutt bestehen. Als die Wagenräder die Schwelle passierten, wurde Lilith tüchtig durchgerüttelt; hier wurde das Land, das kommen würde, von dem abgekoppelt, das einmal gewesen war. Lilith presste Wakolda an sich und schloss die Augen. Das Auto klapperte und schepperte, die Dogge hechelte immer stärker und schnüffelte verzweifelt die Ritzen nach frischer Luft
Weitere Kostenlose Bücher