Wakolda (German Edition)
direkt hinter dem Piloten. Das Bild, das man sich von den Menschen machen konnte, die im Nachbarhaus ein- und ausgingen, war immer äußerst flüchtig. Denn die Flugzeuge, die die Gäste brachten, verschwanden schnell in einem Wasserarm, der, unter einem von dichten Weinranken bewachsenen Bogenspalier, bis ins Grundstück hineinführte.
»Kommen da drüben immer so viele Leute zu Besuch?«, wollte Lilith wissen. Sie war noch ganz aufgeregt.
»Ständig«, raunte Tegai, die sich inzwischen dazugesellt hatte.
»Es werden immer mehr.«
Sie hielten inne, lauschten auf den herunterfahrenden Motor, auf das Quietschen des ins Schloss fallenden Eisengatters und das wilde Gebell der Hunde, die den Eintreffenden entgegengesprungen kamen. Das Einzige, was sie vom Nachbarn wussten, war, dass seine Besucher das Haus niemals verließen. Was sonst nebenan geschah, war ein Geheimnis, um das sich meterhohe Grundstücksmauern, Pappeln und Eukalyptusbäume schlossen.
Die mysteriösen Gäste von nebenan ließen den beiden Mädchen keine Ruhe. Am Nachmittag lehnten sie zusammen mit Tomás eine Leiter an eine hohe Tanne, die gleich hinter der Mauer zum Nachbargrundstück stand, und kletterten bis zu einer kräftigen Astgabel, von der aus sie das parkähnliche Gelände einsehen konnten. Während Lilith mit großem Ernst ihren Beobachtungsposten bezog, waren die beiden Älteren zunächst abgelenkt. Tomás, der bäuchlings hinter Tegai auf dem Ast lag, hatte einen kleinen Zweig abgebrochen und fuhr ihr damit unters Kleid. Obwohl es entsetzlich kitzelte, tat Tegai erst, als würde sie nichts bemerken, und ließ ihn eine ganze Weile gewähren. Dann schob sie seine Hand behutsam weg. Doch auch Lilith, die einzig Wachsame, konnte zunächst nichts Besonderes beobachten, denn die Fenster des Nachbarhauses lagen gut verborgen hinter den Bäumen. Über eine Stunde hielten sie Wache und wollten ihren Posten schon verlassen, da wurde ihre Beharrlichkeit doch noch belohnt: Pünktlich zu jener magischen Stunde, in der das Licht die Dinge schöner erscheinen lässt, als sie sind, trat ein Mann zwischen den Bäumen hervor. Er hatte Stirn, Nase und Kinn verbunden und erinnerte an eine Mumie. Seine Bewegungen waren verlangsamt, wie betäubt. Lilith war von der seltsamen Erscheinung vollkommen gebannt und beugte sich vor, so weit sie konnte. Tomás raunte ihr zu, sie solle sich ducken, doch sie reagierte nicht. Plötzlich schien der Mann sich beobachtet zu fühlen, er wandte den Kopf und sah Lilith oben in der Tanne sitzen. Später hätte sie geschworen, dass er trotz des vom Verband verdeckten Mundes gelächelt hatte. Jetzt aber fuhr sie vor Schreck zusammen und verlor das Gleichgewicht, um ein Haar wäre sie abgerutscht und gefallen, fing sich dann aber und ließ sich von einem Ast zum andern hinab. Zwei Meter über dem Boden geriet sie doch noch ins Rutschen, stürzte und schlug sich beide Knie auf. Tegai und Tomás landeten kichernd neben ihr und rannten weiter in das kleine Wäldchen hinter der Pension. Lilith stolperte ihnen hinterher, doch sie hängten sie ab, und Tomás zog Tegai schnell hinter einen Baum. Gelächter. Dann waren die beiden verschwunden.
Lilith blieb stehen, rang nach Luft und sah sich suchend um.
»Tegai?«
Keine Antwort.
Wieder ersticktes Gelächter, jetzt weiter weg. Sie wusste genau, was die beiden da trieben, und fühlte sich ausgeschlossen. Sie lief ein paar Meter zurück, immer noch ganz in Anspruch genommen von dem Bild des Mumienmannes. Plötzlich sah sie hinter der dichten Hecke, die die Pension umgab, den Wagen des Deutschen stehen. Dann erkannte sie auch José, wie er sich den Hut zurechtrückte wie ein Filmstar. Als er Lilith sah, verließ er sofort den Wagen und kam lächelnd auf sie zu. Er hatte zwei Flaschen Wein und einen Blumenstrauß dabei und die Taschen voller Bonbons. Die würde er dem Jüngsten zustecken, genau so, wie er es jahrelang bei seinen Auserwählten getan hatte. Die begehrten Zuckerkügelchen waren die besten Köder.
»Hier, für dich.«
Er zog eine Margerite aus dem Strauß und schob sie vorsichtig durch die Maschen des Heckenzauns. Lilith biss sich auf die Lippen und starrte auf die orangefarbene Mitte der Blume.
»Sag mal, ist dein Papa da?«
Lilith hauchte ein kaum hörbares Ja, sie wusste selbst nicht, was los war. Sie war doch sonst nicht auf den Mund gefallen, ließ sich so schnell nicht einschüchtern. Jetzt aber fühlte sie sich mit einem Mal merkwürdig befangen. José wiederum
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