Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wakolda (German Edition)

Wakolda (German Edition)

Titel: Wakolda (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucia Puenzo
Vom Netzwerk:
brachte außergewöhnliche Geduld auf, als er ganze fünf Sekunden verstreichen ließ.
    »Dann geh ihn jetzt bitte holen«, befahl er (nach sechs Sekunden war das Maß doch voll). Und Lilith flitzte los. Am Abend zuvor hatte sie, den Kopf in den Schoß ihrer Mutter gebettet, mitangehört, wie sich die Eltern über den Deutschen unterhielten. Die Mutter hatte ihr sacht durchs Haar gestrichen, während der Vater sich ungewohnt energisch dagegen ausgesprochen hatte, einen Fremden in der Pension unterzubringen, bevor sie sie überhaupt eröffneten.
    »Wir kennen ihn doch gar nicht …«
    »Aber wir werden unsere Gäste nie kennen«, hatte Eva erwidert. Sie war zwischen Touristen groß geworden. »Darum geht es ja auch gar nicht. Gäste sind keine Freunde. Wenn wir ihm eins von den Zimmern auf der linken Seite geben, werden wir ihn kaum zu Gesicht bekommen …«
    Der Vater war nicht überzeugt. Trotzdem wurde am nächsten Tag großer Hausputz gemacht. Das war Enzos Bedingung gewesen: Er würde nur wieder in den Süden ziehen, wenn alle dabei mitanpackten, das Haus wieder in Schuss zu bringen. Vor allem die verriegelten Türen waren ihm ein Dorn im Auge. Er ließ den Schlosser aus dem Ort kommen und alle Türen öffnen, zu denen es keine Schlüssel mehr gab. Über die Jahre waren die verschlossenen Räume von Staub und Spinnweben zugewuchert, allerhand Ungeziefer und Nagetiere hatten sich eingenistet, die Luft war stickig und abgestanden. Und da war noch etwas. In der finsteren Abgeschiedenheit der verschlossenen Räume hatte sich etwas Unheimliches, Düsteres breitgemacht, das keiner von ihnen genauer hätte beschreiben können; es war ihnen einfach unbehaglich zumute. Luned rückte mit zwei Schwestern und ein paar Cousinen an. Mit Wischlappen, Eimern und Seifenlauge bewaffnet, stürzten sie sich in den Kampf, um die fünfhundert Quadratmeter Haus zurückzuerobern. Jalousien wurden hochgezogen und Fenster aufgestoßen, Böden geflutet und geschrubbt, während Enzo und Tomás die Möbel, die noch zu retten waren, nach draußen schafften, um die Spuren, die die Jahre auf ihnen hinterlassen hatten, zu tilgen. Liliths Aufgabe war es, von Motten befallene, in Kisten und Schränken eingelagerte Kleidung in die Waschküche im ersten Stock zu schaffen. Beladen mit einem Turm Schmutzwäsche, warf sie im Vorbeigehen einen Blick in eines der bereits frisch gelüfteten Zimmer und sah ihre Mutter vorn am Fenster sitzen; das Gesicht der Sonne zugewandt, durchstöberte sie einen Karton mit alten Fotografien, Schulheften und Kinderbüchern.
    »Keine Ahnung, was deine Großmutter sich dabei gedacht hat.«
    Sie wies auf die an der Wand gestapelten Kartons.
    »Hat das ganze Zeug in unbeschriftete Kisten gepackt, in die Zimmer gestopft, abgesperrt und dann die Schlüssel verschlampt. Seit ich damals nach Buenos Aires gezogen bin, habe ich immer wieder diesen Albtraum: Ich kaufe mit deinem Vater ein Haus, das auf den ersten Blick hell und freundlich wirkt. Aber dann tauchen auf einmal immer neue Türen auf, unbekannte Flure, finstere, dreckige Zimmer. Am Ende lande ich in einem riesigen, offenen Raum, eine Art Schuppen, manchmal ist es auch eine Bühne. Sie gehört zum Haus und ist für jedermann zugänglich. Manchmal führen die Türen auch auf irgendwelche Terrassen oder kleine Gassen hinaus. Letzte Nacht habe ich geträumt, es kämen ganz viele fremde Leute ins Haus. Ich mache ihnen zu essen, kümmere mich um sie, traue mich aber nicht, ihnen zu sagen, dass sie verschwinden sollen. Ich krame für sie das Letzte aus meiner Speisekammer zusammen, Wurst, Obst und Gemüse. Die Leute verteilen sich überall im Haus, dringen in die verbotenen Zimmer ein, machen alles schmutzig, die Fußböden, die Bäder. Bis ich die Musik ausmache und sie zusammentrommle, um zu erklären, dass meine Mutter im Sterben liegt. Und dass sie gehen sollen. Und jetzt … hole ich ja tatsächlich Leute ins Haus. Als würde ich mir das Haus aus meinem Albtraum selbst schaffen.«
    Noch nie hatte Lilith ihre Mutter so viel an einem Stück reden hören, ohne Punkt und Komma. Sie sprach zu ihr, als würde sie eine Freundin ins Vertrauen ziehen. Lilith schaute ihre Mutter schweigend an.
    »Guck mal«, sagte Eva und hielt ihr ein Foto hin, »das bin ich.«
    Sie zeigte auf ein Mädchen mit Zöpfen und Schuluniform. Fünfunddreißig Kinder saßen vor dem Eingang einer Schule mit Giebeldach auf der Treppe und lächelten in die Kamera. Auf dem Schild neben ihnen stand:
    ESCUELA

Weitere Kostenlose Bücher