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Wakolda (German Edition)

Wakolda (German Edition)

Titel: Wakolda (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucia Puenzo
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kaum zehn Mitschülern als Neue vorgestellt.
    »Deine Mutter hat mir erzählt, dass du kein Deutsch sprichst, es aber ganz gut verstehst«, erklärte die Lehrerin und brachte sie an ihren Platz.
    Lilith nickte.
    »Dann wirst du es bestimmt schnell lernen. Das hier ist die Spanischklasse, aber sobald ihr ein paar Grundkenntnisse habt, kommt ihr in eine andere Klasse, da sind dann doppelt so viele Schüler.«
    Das niederschmetterndste Erlebnis am ersten Schultag stand Lilith aber noch bevor. Es geschah beim Schwimmunterricht. Im Hallenbad der Primo Capraro gab es am Kopfende des Schwimmbeckens ein paar Stufen. Dort hockten fünf strohblonde, durchtrainierte Jungs und warteten, bis sie aufs Sprungbrett durften. Immer wenn die Lehrerinnen außer Hörweite waren, riefen sie den Mitschülerinnen kichernd eine Punktezahl hinterher. Als Lilith im Badeanzug vorbeilief, brüllten sie wie aus einem Munde: »Null!« Lilith blieb wie versteinert stehen. Da kamen zwei Mädchen mit großzügiger Oberweite (zwei Neunen), schubsten Lilith vorwärts und erläuterten ihr schadenfroh, was es mit diesem Spiel auf sich hatte. Auf ihre Null könne sie sich direkt etwas einbilden, die Jungs hätten zwar schon das eine oder andere Mal eine Zwei verliehen, eine Null hatte es aber noch nie gegeben.
    Am späteren Abend kehrte José aus der Stadt zurück. Im Kamin der hell erleuchteten Pension brannte ein Feuer. Enzo saß an seinem Schreibtisch, hatte einen Stirnlupe um und trug Farbe auf die Lippen einer Porzellanpuppe auf. Eva nähte einen blonden Haarschopf aus Flachs an, Lilith half die Haarsträhnen zurechtzulegen. Ihr kleiner Bruder hockte auf dem Holzfußboden und spielte mit einer elektrischen Eisenbahn, im Hintergrund lief das Radio. Ein friedlicher Anblick. Völlig unbemerkt schlich José um das Haus. Nur Lilith meinte gesehen zu haben, dass sich zwischen den Tannen etwas regte. Sie presste die Stirn gegen die Fensterscheibe. Der Wind holte die ersten Blätter von den Bäumen herunter, das war alles. Als Enzo mit großer Kunstfertigkeit die Umrisse der Puppenlippen vollendete, drehte Eva das Radio auf und bedeutete dem Kleinen, er solle die Eisenbahn ausschalten. Das Hörspiel steuerte auf seinen dramatischen Höhepunkt zu. Eine Verratsszene. Die Stimmen überschlugen sich. Sonst war es im Haus ganz still. Lilith legte sich die Worte zurecht, mit denen sie ihren Entschluss verkünden würde.
    »Papa«, hob sie an, als das Hörspiel zu Ende war.
    Enzo sah von der eben zu einem perfekten Bogen gezogenen Augenbraue auf.
    »Ich will diese Behandlung. Ich will wachsen. Mama hat gesagt, ich soll es mit dir besprechen.«
    Enzo warf Eva einen Blick zu; in den letzten Tagen hatten sie mehrfach darüber gestritten. Sie war der Meinung, es schade nichts, die Sache auszuprobieren. Beide wussten, wie Lilith darunter litt, dass sie nur im Schneckentempo wuchs, während andere Kinder ihres Alters wahre Wachstumsschübe erlebten.
    »Ich habe keine Angst vor Spritzen. Außerdem ist es nicht gefährlich.«
    »Ein Risiko gibt es immer. Auch wenn dieser Deutsche das Gegenteil behauptet.«
    »Es ist aber mein Körper ...«
    »Du bist noch ein Kind.«
    »Na und?«, maulte Lilith.
    »Wir entscheiden darüber, was mit deinem Körper passiert.«
    Enzo wechselte den Pinsel und machte sich an die winzige Zahnreihe. Er klang entschieden, Widerrede war zwecklos. Lilith verzog das Gesicht. Da hob der Vater sie zu sich auf den Schoß und drückte ihr den Pinsel in die Hand.
    »Komm mal her. Mach du die Zähne.«
    Sanft streifte er ihr die Stirnlupe über. Das war seine Art zu sagen, dass alles seinen Lauf nehmen würde. Mit unsicherer Hand trug Lilith Perlmuttweiß auf die zwei Schneidezähne auf. Es war noch eine knappe halbe Stunde bis zur ihrer Verabredung mit José – der in diesem Augenblick den halbdunklen Flur des Gästeflügels entlangschlich. Aus einem der Zimmer drang Gekicher durch die offene Tür. Im Spiegel erblickte er Tegai, die gerade mit jugendlichem Eifer von Tomás geküsst wurde. Er hatte ihr das Kleid bis zur Taille hochgeschoben, seine Hand lag zwischen ihren Beinen. Tegai sah in den Kommodenspiegel und traf dort auf Josés Blick. Erschrocken stieß sie Tomás von sich. Der stopfte sich eilig das Hemd in die Hose, stürzte aus dem Zimmer und stolperte, vor Erregung noch ganz verwirrt, wortlos an José vorbei, während sich Tegai die Bluse zuknöpfte, das Bettenmachen wieder aufnahm und beim Glattstreichen der Laken zu sich zu kommen versuchte.

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