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Wakolda (German Edition)

Wakolda (German Edition)

Titel: Wakolda (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucia Puenzo
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José schaute ihr eine Weile zu.
    »Erwarten wir Gäste?«
    »Morgen reist ein Paar aus Frankreich an ... Nehmen Sie Ihr Abendessen in Speisesaal ein, oder soll ich es Ihnen aufs Zimmer bringen?«
    José warf einen Blick auf die Standuhr in der Ecke des Flurs und lehnte ab: Es war schon halb neun. Bis Lilith erschien, würde er höchstens Zeit für eine kurze Dusche haben. Lilith unterdessen kramte in ihrem Zimmer eine ihrer ältesten Plastikpuppen hervor und riss ihr Arme und Beine aus. Sie konnte es kaum erwarten, dass José sein Versprechen einlöste.
    Um fünf vor neun stopfte sie drei Kissen unter ihre Bettdecke, öffnete das Fenster und kletterte auf den Dachvorsprung, der sich um das gesamte Haus zog. Es war zwar noch Spätsommer, nach Sonnenuntergang fiel die Temperatur aber rapide ab. An diesem Abend war es besonders frisch, vom Nahuel Huapi stieg Wind auf. Lilith bemühte sich, nicht in die Tiefe zu sehen. Sie hatte nur eine Hand frei, um das Gleichgewicht zu halten, mit der anderen hielt sie die losen Puppenteile umklammert. Sie kletterte bis zum Dach des linken Hausflügels und rüttelte an mehreren Fenstern, bis eines nachgab; es war Josés Badezimmerfenster. Die Scheiben waren beschlagen, die Fliesen feucht, die Fußabdrücke auf dem Boden führten bis auf den Flur und verloren sich dort. Wassertropfen lösten sich vom Duschkopf und platschten in die Badewanne. Lilith lauschte dem Rhythmus der Tropfen und hielt den Atem an. Plötzlich schnürte sich ihr die Brust zu, sie bekam immer weniger Luft, ihr Atmen stockte. Es war nicht das erste Mal, dass sie im Zustand starker Erregung einen leichten Asthma-anfall erlitt. Schnell ließ sie sich ins Badezimmer hinuntergleiten und setzte sich auf den Wannenrand, bis ihr das Blut wieder in den Kopf schoss. Dann schlich sie mit weichen Knien ein paar Schritte über den Flur und hielt erneut inne. Es war unvorsichtig, sich um diese Uhrzeit hier herumzutreiben, ohne dass jemand davon wusste. Gerade wollte sie auf dem Absatz kehrtmachen, da stand José auf der Türschwelle.
    »Du bist spät dran.«
    Lilith nickte steif.
    »Komm rein.«
    Lilith gehorchte.
    Parfum hing in der Luft. Süßer und klebriger noch als im Flur. José stellte seinen Koffer auf den Schreibtisch und breitete alle notwendigen Instrumente aus: Nadel und Faden, Pinzette, Skalpell. Es war alles da, selbst Verband und Alkohol.
    »Dann zeig mir mal unsere kleine Patientin.«
    Lilith legte die einzelnen Teile der Plastikpuppe auf den Tisch und sortierte sie der Größe nach.
    »Hast du schon einmal genäht?«
    Lilith schüttelte den Kopf.
    »Dann wirst du es heute lernen.«
    José zog die Schreibtischschublade auf und holte den Dolch mit den zwei Sigrunen und dem deutschen Schriftzug hervor. Lilith deutete auf das Zeichen, das sie von den Schulfotos ihrer Mutter kannte.
    »Was ist das?«
    »Ein Buchstabe aus dem griechischen Alphabet ... Das Hakenkreuz.«
    Er schnitt zwei Stück Faden ab und fädelte sie ein. »Die vier Arme stehen für die Möglichkeiten, die jeder Sterbliche hat: erlöst zu werden, in die Hölle zu kommen, als Mensch oder als niederes Wesen wiedergeboren zu werden.«
    Lilith nahm eine der Nadeln in die Hand und starrte weiter auf das Zeichen.
    »Und was steht da?«
    José las die deutsche Inschrift vor und wiederholte sie dann auf Spanisch:
    »Meine Ehre heißt Treue.«
    Langsam fuhr José mit dem Finger über die Klinge. Dann sah er Lilith streng an:
    »Aber ohne Blut ist Ehre nichts wert.«
    »Was hat denn Ehre mit Blut zu tun?«
    »Vermischung macht das Blut unrein und zerstört die Erinnerung.«
    »Ist mein Blut rein?«, fragte Lilith.
    Kurz erwog José, Lilith die Folgen darzulegen, die die Rassenvermischung auf ihren Körper gehabt hatte. Er nahm sich einen der Puppenarme vor.
    »Nein«, sagte er knapp und wies Lilith rasch an, den Rumpf und ein Bein in die Hand zu nehmen.
    »Denk dir jeden Stich als eine Art Kreis: Du stichst hier hinein, und auf der anderen Seite kommt die Nadel wieder zum Vorschein, so, und dann wieder zurück ... Siehst du? Ein Stich und noch einer und noch einer ... So, jetzt bist du dran.«
    Es war gar nicht so einfach, wie es bei José aussah. Einmal blieb die Nadel im Plastik stecken, beim zweiten Mal zog sich ein Knoten in den Faden, dann stach Lilith sich in den Daumen. Sie schrie auf, wollte den Daumen in den Mund stecken und den Blutstropfen ablecken, doch José hielt ihre Hand fest ...
    »Nichts ist geheimnisvoller als Blut«, verkündete er

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