Wakolda (German Edition)
letzter Gedanke vor dem Einschlafen galt dem merkwürdigen Fremden, der jetzt mit ihnen unter einem Dach lebte. Er interessierte sich für sie, hatte er gesagt.
7
Lilith war es gewöhnt, dass die anderen Kinder über sie tuschelten und kicherten, dass sie gehänselt wurde. Darum verzog sie sich nachmittags in der Schule lieber in die Bibliothek. Den Schwimmunterricht besuchte sie nie wieder, ebensowenig den Sportunterricht. Selbst den Pausenhof mied sie nach Möglichkeit. Die stillen, bis an die Decke mit Büchern vollgestopften Gänge waren der einzige Ort, an dem sie sich sicher fühlte. Nach jedem Klingeln flüchtete sie sich in diese Höhle. Wenn man ihr hinterherpfiff oder böse Spitznamen nachrief (Albinozwergin war der beliebteste), zog sie den Kopf ein und lief weiter. Es dauerte nicht lange, da bot ihr die Bibliothekarin eine kleine Arbeit an. Sie durfte die vielen, noch unsortierten Buchbände abstauben, die sich in den Regalen stapelten. Die Kriegsjahre, in denen die Schule geschlossen gewesen war, hatten die Bände auf den Dachböden der Honoratioren von Bariloche überdauert. Nach dem Umzug in das neue Gebäude nahm die Bibliothekarin nun die Sisyphusarbeit in Angriff, die Bücher zu sortieren, auszuzeichnen und zu katalogisieren. Lilith hatte jetzt ein Alibi dafür, sich nicht mehr auf dem Pausenhof blicken zu lassen. Außerdem konnte sie nach Belieben Bücher mit nach Hause nehmen, denn in der Unordnung fiel es nicht auf, wenn etwas fehlte. An einem Abend suchte sie in einem spanischdeutschen Wörterbuch, das zwischen unzähligen alten Büchern in einem Regal stand, nach dem Begriff
Sonnenmenschen
. Dabei wurde sie auf den großen Jungen aus ihrem Jahrgang aufmerksam, der immer so mürrisch aussah. Er hieß Otto und sprach so gut wie nie mit jemandem. Er stand im benachbarten Gang und riss Seiten aus einem Buch; diese zerfetzte er dann in immer kleinere Schnipsel und stopfte sie sich in die Hosentaschen. Blitzschnell hatte er ein ganzes Buch zerlegt und machte sich sofort ans nächste. Lilith sah misstrauisch zu ihm hinüber. Sie hatte ihn schon öfter durch die Gänge huschen sehen, manchmal war ihr aufgefallen, dass er sie anstarrte, aber angesprochen hatte er sie nie. Jetzt schlich sie sich an und lugte durch das Regal, sie wollte sehen, welches Buch er sich vorgeknöpft hatte. Als er aufschaute, sah sie schnell wieder in ihr Wörterbuch. Doch da kam Otto zu ihr hinüber.
»Wonach suchst du denn?«
»Sonnen ... men ...«
»
Sonnenmenschen
. Das findest du da niemals. Komm mal mit, ich zeig dir was.«
Otto steuerte einen Gang ganz hinten in der Bibliothek an, den er gut zu kennen schien – Lilith war er völlig unbekannt –, und zog einen eingestaubten Band aus dem Regal:
Das kommende Geschlecht
von Edward Bulwer-Lytton. Er überblätterte die ersten Seiten. Eine Abbildung zeigte einen außergewöhnlich hochgewachsenen Mann, eine Art arischen Adonis. Otto war drei Köpfe größer als Lilith, jedoch Lichtjahre von arischer Reinheit entfernt. Er verzog spöttisch das Gesicht.
»Im Reich der Vril-ya unter der Erde gibt es gar keine Sonne, aber es ist trotzdem warm und hell bei ihnen. Und wenn die Vril-ya eines Tages an die Erdoberfläche kommen, angelockt von den Strahlen unserer Sonne, werden sie alle anderen Rassen unterwerfen.«
»Also sind sie die Sonnenmenschen?«, raunte Lilith.
»Wer weiß.«
Lilith starrte auf die Papierfetzen in Ottos Hosentaschen.
»Wieso machst du das eigentlich?«
Otto antwortete nicht. Stumm drückte er Lilith
Das kommende Geschlecht
in die Hand.
»Lies es.«
Dann beugte er sich zu Lilith herunter und sah ihr in die Augen.
»Und halt bloß den Mund.«
An diesem Abend konnte Lilith es zum Erstaunen ihrer Eltern kaum abwarten, zu Bett zu gehen. Unter ihrer Decke vergraben, versuchte sie zu ergründen, was es mit dem Buch auf sich hatte. Doch sie verstand nichts.
Noch unverständlicher war Das
Sonnentor von Tiahuanaco
, das sie später auslieh, und auch mit den Büchern von Helena Blavatsky, Guido von List, Rudolf von Sebottendorf und James Churchward, die Otto ihr alle empfahl, konnte sie nichts anfangen. Die Namen der Autoren aber hatte sie sich gemerkt, die Bibliothekarin hatte sie nämlich gebeten, alle diese Bücher vom restlichen Bestand zu trennen; sie kamen in eins der obersten Regale, wo, wie Lilith schnell begriff, die verbotenen Bücher landeten, die einen besonderen Reiz ausübten.
Sie nahm sich ein spanisch-deutsches Wörterbuch mit, das ihr in
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