Wakolda (German Edition)
den langen Nächten unter der Bettdecke eine große Hilfe war. Sie machte schnelle Fortschritte. Bald erschloss sie die Kernaussage eines Satzes, die Feinheiten entgingen ihr meist noch. Beim zweiten heimlichen Besuch in Josés Zimmer hatte sie das Wörterbuch in der Tasche und begann mit der Übersetzung einiger Begriffe, die auf der ersten Seite des schwarzen Notizheftes über einem Stammbaum prangten. Ein Schaubild voller Pfeile und Ziffern. Das erste, fett unterstrichene Wort, das sie nachschlug, war
Endlösung
. Es folgten
Aussiedlung und Sonderbehandlung
. Auf der zweiten Heftseite eine weitverzweigte, vor Ziffern und Nummern überquellende Liste, darüber vermerkt:
Vernichtung durch Arbeit
. Auf der dritten Seite Aufzeichnungen zur
Forschungs- und Lehrgemeinschaft »Das Ahnenerbe«
. Lilith gelang es, diese Worte einigermaßen zu übersetzen, sie fand sie aber so merkwürdig, dass sie das Heft verstört an seinen Platz zurücklegte und schließlich glaubte, doch falsch übersetzt zu haben. Noch bevor Josés Chevrolet draußen vorfuhr, war sie durchs Fenster zurückgeklettert. Sie war mit seinem Tagesablauf mittlerweile recht vertraut. In der Nacht lag sie lange wach und grübelte darüber nach, woher sie stammte und was ihr wohl noch bevorstand.
José war ganz erpicht darauf, endlich selbst eine Puppe herzustellen. Die Vorstellung, eine perfekte Gussform anzufertigen, ließ ihn nicht mehr los. Der eher unschuldige Zeitvertreib würde ihm zudem gestatten, weiter mit vollkommenen Formen zu experimentieren. Noch aber musste er sich gedulden. Am Tag zuvor war er die Regale eines Spielzeugladens abgelaufen und hatte das darin ausgestellte Mittelmaß begutachtet. Später besuchte er im Bürgeramt von Bariloche einen Bekannten, der ihm Hilfe anbot. Sein Wunsch – ein Raum für die Anfertigung von Porzellanformen – klang jedoch einigermaßen seltsam.
»Darf man erfahren, was Sie vorhaben?«, erkundigte sich sein Helfer.
»Ich will Puppen herstellen«, erwiderte José knapp.
Der Freund war überzeugt davon, dass es um die Tarnung illegaler Geschäfte ging: Geldwäsche, Schmuggel, Dokumentenfälschung ...
»Geben Sie mir mir ein paar Tage«, sagte er.
Auf dem Nachhauseweg beschloss José, dass es an der Zeit war, tätig zu werden. Zwei Monate waren nach der Wiedereröffnung der kleinen Pension am Nahuel Huapi vergangen, und die Familie hatte sich daran gewöhnt, dass Gäste im Haus waren. Er war der ruhigste von allen. An manchen Tagen nahmen die Gäste ihr Abendessen gemeinsam ein; er aber saß immer abseits.
Er hatte erreicht, was er wollte: Man nahm ihn nicht wahr.
Er stellte den Chevrolet zwischen den anderen Wagen ab und schlenderte zu Enzos Werkstatt hinüber, die in Wahrheit nicht mehr als eine Ecke im hinteren Teil der Garage war. Durchs Fenster sah er Enzo flüssiges Porzellan in eine Gipsform gießen. An seiner Seite schmirgelte Tomás mit einer Nylonstrumpfhose einen frisch gebrannten Porzellankopf glatt, bis die Haut samtweich wurde und glänzte. José bat um Einlass in Enzos Refugium und bestaunte die Skizzen von Fingergliedmaßen und drehbaren Hälsen, die an den Wänden hingen. Auf dem Tisch lagen Zangen und allerhand Pinsel; dazwischen Farbtöpfe, lose Arme und Beine. In einer Ecke ein paar Puppenköpfe.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie sich mit so etwas befassen«, behauptete er.
»Reiner Zeitvertreib.«
»Aber was sagen Sie da – Zeitvertreib! Sie haben wirklich Talent!«
Enzo öffnete die Tür des Backsteinofens, den er mit der Hilfe seines Sohnes gebaut hatte. Er zog sich ein paar Asbesthandschuhe über und nahm eine Form heraus.
»Vorsicht! Glühend heiß!«
Tomás sprang zur Seite. Enzo stellte die Form auf den Abstelltisch und öffnete sie vorsichtig. Zum Vorschein kamen Kopf, Arme und Beine, alles perfekt gebrannt. Enzo strahlte wie ein Kind. Solange die frisch gebrannten Teile auskühlten, machte er sich daran, bereits fertige Gliedmaßen mittels einer komplizierten, von ihm selbst entwickelten Gelenkkonstruktion miteinander zu verbinden. Aufmerksam sah ihm José dabei zu.
»Sie wären ein guter Chirurg geworden, Enzo.«
Auch er strahlte über das ganze Gesicht. Zum ersten Mal seit langem war seine Freude nicht gespielt.
»Wie viele schaffen Sie in der Woche?«
»Zwei bis drei.«
»Und zu welchem Preis verkaufen Sie sie?«
Enzo errötete. Die Frage beschämte ihn. Egal wie viel Zeit er in sie investierte – es waren reine Liebhaberstücke. Schließlich betrieb er die
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