Wakolda (German Edition)
dann?«, fragte sie ratlos.
»Dann werden sie erwachsen. Sie paaren sich. Und sterben.«
Lilith starrte auf die dunkle Öffnung zwischen ihren Händen, dann sah sie zu José auf und rückte heraus mit der Sprache:
»Wie viel könnte ich denn noch wachsen?«
José versuchte, ein Schmunzeln zu verbergen. Es war leichter als gedacht.
»Wenn wir ein bisschen nachhelfen – sicher einiges.«
José hatte sich seit einigen Wochen in seinem neuen Leben eingerichtet, als er einen Anruf von einem der deutschen Kollegen aus dem örtlichen Krankenhaus erhielt: Die Wachstumshormone waren eingetroffen. Er wusste, dass Vorsicht geboten war, doch lieber ließ er sich auf ein gewisses Risiko ein, anstatt monatelang darauf zu warten, dass ihm die Beute von selbst in die Fänge ging. Immerhin hatte er bereits ein paar Patienten auf der Warteliste, Kühe, Kälber, anämische Schwangere … Liliths Eltern hatten sich darauf geeinigt, eine Zweiwochenkur auszuprobieren. In der Nacht vor Behandlungsbeginn setzten sie Lilith davon in Kenntnis.
»Ich lasse mich auch behandeln«, erklärte Eva.
»Willst du denn noch wachsen?«
»Dein Brüderchen soll gut wachsen.«
»Schwesterchen.«
»Was auch immer.«
Da sie sich nach Einnahme des Eisenpräparats und der Vitamine sichtlich besser fühlte, hatte José Eva zu einer leichten Dosis Wachstumshormone geraten. In den letzten Schwangerschaftsmonaten konnte das nur von Vorteil sein. Er zeigte ihr Bücher, Fotos, verwies auf Statistiken, versprach alles Mögliche und ließ nicht locker, bis sie einwilligte. Enzo sperrte sich tagelang, bis auch ihr Hausarzt erklärte, Josés Vorschlag sei ganz und gar nicht abwegig. Er behauptete sogar, Lilith könne kaum in besseren Händen sein. Enzo verließ die Arztpraxis mit noch größeren Bedenken. Der Arzt war ein Freund aus der Zeit, in der Lilith klein gewesen war, er stammte aus deutscher Familie. Mehr als einmal hatte er ihn mit José – der mittlerweile lebhafteren gesellschaftlichen Umgang pflegte als er selbst – in einem der Lokale im Ort gesehen. Doch Eva war zur Behandlung fest entschlossen, sodass er es nicht wagte, ihr zu widersprechen. Seiner Frau machte die Schwangerschaft sichtlich zu schaffen, sie war gereizt und erschöpft. José bat also Lilith und Eva zu sich aufs Zimmer und bereitete in ihrer Gegenwart zwei Spritzen vor. Er nahm eine Ampulle aus einer Box mit Trockeneis und rieb sie auf Zimmertemperatur hoch.
»Wozu machen Sie das?«, wollte Lilith wissen.
»Wenn es kalt ist, tut es mehr weh.«
Er zog die Spritze mit einer dicken, farblosen Flüssigkeit auf und machte sich doch tatsächlich, wie er verwundert bemerkte, Gedanken darüber, ob ein anderer Mensch womöglich Schmerzen haben könnte.
»Bei wem zuerst?«
»Bei mir.«
Eva ließ José ihren Arm mit einem in Alkohol getunkten Wattebausch abtupfen und nahm den Einstich der Nadel hin, ohne eine Miene zu verziehen.
»Das war’s schon.«
Eva drückte den Wattebausch auf die Stichstelle. Sie hatte nun doch großes Vertrauen in José, hatte den Deutschen mittlerweile sogar ein wenig ins Herz geschlossen, denn er war nett zu ihren Kindern, und sie mochten ihn. Mehrfach hatte er angeboten, sie von der Schule abzuholen, die ganz in der Nähe der Tierhandlung lag. Auch die zwei Jungs buhlten inzwischen um seine Aufmerksamkeit.
Lilith hielt die Luft an, als er unter dem prüfenden Blick der Mutter einen Knopf ihres Kleides öffnete.
»Lilith bekommt die Spritze in den Bauch.«
Er griff ein wenig Haut zwischen Zeigefinger und Daumen und betupfte die Stelle mit Alkohol.
»Gleich piekst es ein bisschen …«
Schon steckte die Nadel drin.
»Na, hat’s wehgetan?«
»Kein bisschen.«
»Na siehst du.«
Dann fasste er Lilith bei den Schultern, schob sie zur Tür, sodass sie mit dem Rücken gegen den Rahmen lehnte, und legte ein Lineal über ihrem Kopf an. Er bat Eva, einen Strich ziehen zu dürfen, um von nun an Übersicht über ihr Wachstum zu haben.
»Siehst du? So groß bist du heute.«
Er wies auf die kaum sichtbare Markierung auf dem Zedernholzrahmen.
»Dann wollen wir mal sehen, wie groß du in einem Monat bist.«
»Und wenn ich kein winziges bisschen wachse?«
»Du musst nur dran glauben.«
Einige Wochen später gebar die Kuh, der José ab der Mitte ihrer Trächtigkeit eine sehr hohe Dosis Hormone verabreicht hatte, stramme Kalbszwillinge. Das Ereignis sprach sich schnell herum, und einige der Bauern öffneten dem Deutschen die Tore. Worüber aber keiner
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