Wakolda (German Edition)
sprach: Viele von ihnen ließen José nicht nur ihr Vieh impfen, sondern händigten für ein paar Schweizer Franken auch Blutproben ihrer schwangeren Frauen und Töchter aus. José konnte seine statistischen Erhebungen weiterführen und war bester Stimmung.
Zweiter Teil
WAKOLDA
8
Am Morgen nach der ersten Spritze, es war ein Sonntag, schlug Lilith die verklebten Augen auf und hätte sich im ersten Moment am liebsten gleich wieder die Decke über den Kopf gezogen. Sie fühlte sich wie zerschlagen, ihr Kopf schmerzte, ihre Glieder waren ganz steif. Doch dann raffte sie sich auf, schlug die Decke zurück und schwang sich aus dem Bett. Ein Sprung in den kühlen See würde sie bestimmt erfrischen, sprach sie sich aufmunternd zu, schlüpfte in ihren Badeanzug, warf sich ein Handtuch über und lief barfuß hinunter zum See. Es waren die letzten lauen Herbsttage, die Blätter hatten sich bunt gefärbt. Lilith sprang mit einem Satz hinein und machte ein paar rasche Züge. Sie drehte sich auf den Rücken und strampelte mit den Beinen, vollführte ein paar nixenhafte Pirouetten (im Wasser war ihr Körper perfekt), tauchte wieder unter. Als sie prustend aus dem Wasser schoss, sah sie José am Ufer sitzen. Er hatte einen Klappstuhl und einen Sonnenschirm ganz an die Wasserkante gerückt, es sich dort bequem gemacht und sah ihr zu. Lilith kletterte aus dem Wasser und lief über den Rasen zu ihm hin, der nasse Badeanzug klebte an ihrem nicht mehr ganz kindlichen Körper, zwei harte kleine Knospen zeichneten sich darunter ab. Mit klappernden Zähnen stand sie vor dem Deutschen und hüpfte von einem Bein aufs andere.
»Wollen Sie nicht auch reinkommen?«
»Ich bade nicht so gern.«
»Haben Sie die neuen Gäste schon gesehen?«
»Ja, vorhin.«
»Und was sind das für Leute?«
»Franzosen«, antwortete er knapp.
Am frühen Morgen war ein Paar mit sonnenverbrannten, windgegerbten Gesichtern eingetroffen, das seit beinahe einem Jahr mit einer Filmkamera durch Südamerika reiste. Beide hatten beeindruckende Adlernasen. José war blass geworden, als er sie, frisch geduscht, an einem Tisch im Speisesaal sitzen sah. Der Mann putzte die Linse seiner Kamera, die Frau hatte die Hände in einer schwarzen Segeltuchtasche und hantierte dort mit irgendetwas herum. Es handele sich um eine Art tragbare Dunkelkammer, erklärte sie José, in der sie alles, was sie filmten, gleich entwickeln konnten. Sie zog den Film von der Rolle und steckte ihn in eine Blechdose. Die beiden arbeiteten an einem Dokumentarfilm über Südamerika, jedes einzelne Land wollten sie bereisen, bevor sie wieder nach Europa zurückfuhren. Dreißig Blechdosen hatten sie schon, und immer, wenn sie eine voll hatten, schickten sie sie nach Buenos Aires, postlagernd.
»In diesen Zeiten hält man sich ja gern von Europa fern«, bemerkte der Mann.
Sie kamen direkt aus Ushuaia, der südlichsten Stadt Argentiniens, davor waren sie sechs Monate im äußersten Süden Chiles unterwegs gewesen. Überall machten sie Bilder von den Menschen, die ihnen begegneten. Um für jeden Anlass gerüstet zu sein, hatten sie neben der Filmkamera auch noch zwei Fotoapparate dabei.
»Wenn Sie also erlauben …«
Schon hielt sich der Franzose die Kamera vors Auge.
»Ich mag es nicht, wenn man mich fotografiert«, entgegnete José barsch.
Das hatte ihm gerade noch gefehlt: zwei naive Kamerafanatiker in edler Mission. Er sparte sich jedes weitere Wort und flüchtete bei der ersten Gelegenheit zum See hinunter. Der Franzose hakte nicht weiter nach, obwohl der deutsche Akzent des Gastes ihn sofort misstrauisch gemacht hatte. Es war nicht die Zeit, Fragen zu stellen
Schon wenige Stunden später saßen sie zusammen an einem Tisch, und diesmal gab es kein Entrinnen. Enzo hatte zur Feier des Tages – sein Jüngster wurde fünf – ein Zicklein heranschaffen lassen. Der Braten schmorte seit dem Morgen auf kleiner Flamme vor sich hin, und der Duft zog durchs ganze Haus. Die Pensionsgäste waren selbstverständlich mit eingeladen, und am frühen Nachmittag bat Enzo zu Tisch. Mit den Essgewohnheiten des Deutschen hatte er nicht vor, sich abzufinden, Vegetarier waren in seinen Augen krank – oder pflegten zumindest eine schlechte Angewohnheit. Also bekam auch José reichlich aufgetan. Während das französische Pärchen die Geburtstagsrunde mit unterhaltsamen Geschichten bei Laune hielt – ihr Anekdotenschatz schien unerschöpflich, und die Zuhörer lauschten ihnen gebannt –, gelang es José, das
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