Wakolda (German Edition)
eine oder andere Stück Ziegenfleisch heimlich unter den Tisch zu befördern, wo sich die englische Dogge darüber hermachte. Die näselnde Stimme, das völlig übertriebene Lachen und die falsche Bescheidenheit vor allem des Mannes waren kaum auszuhalten. José musste sich anhören, wie der Franzose Vulkane, Berge und Eisgletscher bestiegen hatte, den Amazonas hinaufgefahren, in Lepra-Asylen untergekommen, vor einem Steinrutsch in der Nähe der Salzwüste von Cuzco geflohen war und in Bolivien ein Dutzend Minenarbeiter aus den Trümmern einer verschütteten Goldmine gerettet hatte … Unerträglich aufgesetztes Heldentum. Gerade wollte José auf die Toilette flüchten, als das Gespräch eine Wende nahm, die ihn aufhorchen ließ.
»Stellen Sie sich vor: Regelrechte Konzentrationslager waren das«, berichtete der Franzose mit tragischer Miene.
»Drei Meter hoher Stacheldrahtzaun, dahinter Hunderte von verhungernden Mapuches …«
»Also davon habe ich wirklich noch nie gehört«, sagte Enzo und sah verstört zu seiner Frau hinüber.
»Du etwa?«
»Absolut nicht. Nie gehört«, pflichtete Eva bei.
»Wann wurden diese Lager denn errichtet?«
»Das war 1879. Der Urgroßvater meiner Mutter, der aus Wales stammte, berichtet in seinen Memoiren davon. Wir haben die Überreste dieser Lager übrigens fotografiert … Nach der Eroberung der Wüste und der Niederlage der Indianer hat die Grenzpolizei jede indianische Familie, die ihr in die Quere kam, zwangsumgesiedelt … Damals sollen zwischen zehn- und zwanzigtausend Mapuches durch die Lager gegangen sein. Im Jahr 1879 wurden sogar eigens zwei Friedhöfe eingerichtet – ich denke, das reicht, um sich eine Vorstellung zu machen. Eine andere Taktik bestand auch darin, die Fortpflanzung der Mapuche-Bevölkerung zu unterbinden. Man trennte die Frauen von den Männern und die Kinder von ihren Eltern, änderte ihre Namen … Viele Menschen wissen heute, dass sie indianischer Abstammung sind, können aber die Geschichte ihrer Familie nicht mehr rekonstruieren, weil man ihre Vorfahren einfach mir nichts, dir nichts Juan Pérez oder Carlos López genannt hat. Und dann hat die herrschende Klasse die Kriegsbeute unter sich aufgeteilt; seien wir ehrlich und sagen, wie es war … Selbst die Tageszeitung
La Nacional
titelte damals regelmäßig:
Heute wieder Indianerabgabe
. Die Damen der Oberschicht schauten mittwochs und freitags im Auffanglager von Buenos Aires vorbei und hielten Ausschau nach Kindern, die sie an ihre Freundinnen verschenken konnten. Oder sie suchten nach Dienstmädchen, Köchinnen und ähnlichem Personal, das sich ausbeuten ließ. Sie haben Familien zerstört, ohne mit der Wimper zu zucken.«
»Meine Güte, das ist ja alles furchtbar«, murmelte Eva.
Daran, dass viele Dienstmädchen und Landarbeiter, die früher hier in der Pension gearbeitet hatten, genau von jenen Kindern abstammten, die man damals ihren Eltern entrissen hatte, verschwendete sie keinen Gedanken. Lilith sah ihre Eltern ungläubig an. War das wahr, was der Franzose da erzählte? Ihr Vater bekreuzigte sich. José lächelte verächtlich, wirkte dabei jedoch leicht irritiert. Hatte er richtig gehört – hatte man in Deutschland am Ende gar nichts Neues erfunden?
»Angeblich wurde der Krieg ja im Interesse der Siedler geführt, die in der Wüste lebten. Die haben aber von dem ganzen Kuchen nie etwas abbekommen. Weder die alteingesessenen Siedler noch die übriggebliebenen Indianer haben jemals etwas davon bekommen. Denn das Land, das mit der Eroberung gewonnen wurde, war für die Großgrundbesitzer gedacht – für Gutsbesitzer aus Buenos Aires oder aus England. In nur siebenundzwanzig Jahren hat der argentinische Staat etwa fünfzig Millionen Hektar an großbürgerliche Gutsbesitzer verhökert.«
Der Franzose hatte ein besonderes Talent dafür, bei seinen Zuhörern Schuldgefühle zu wecken, und er legte es durchaus darauf an. Als er nach dem Essen vorschlug, ein Gruppenfoto der versammelten Geburtstagsgesellschaft zu machen, und Enzo und Eva sich lächelnd vor dem Haus postierten, beschlich auch sie ein leichtes Gefühl der Scham, schließlich hatten sie die Pension einfach so geerbt. Umso mehr schärften sie den Kindern ein, für dieses erste gemeinsame Foto aufrecht und mit festem Blick in die Kamera zu schauen. Der Franzose versprach, das Bild noch an diesem Abend in der kleinen Dunkelkammer zu entwickeln, die er im Bad eingerichtet hatte.
José spürte, wie sich die Kamera auf ihn
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