Wakolda (German Edition)
so schlecht behandelt hatte. Lilith versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Sie wollte vor ihm auf keinen Fall weinen. Vergeblich. Da stand sie, hilflos und verletzlich, auf den Trümmern seines Reiches, und streckte ihm die Hände entgegen.
»Lilith«, sagte er sanft. »Lilith.«
Er kostete den Klang ihres Namens.
Er hatte die eine oder andere Frau besessen, aber seine
Lilith
war ihm bislang vorenthalten geblieben. Dabei hatte ihn die Frau, die die nicht bereinigte Schöpfungsgeschichte neben Eva noch erwähnte, schon immer fasziniert.
»So ein schöner Name.«
Lilith aber schien untröstlich.
»Hörst du auf zu weinen, wenn ich dir ein Geheimnis verrate?«
Lilith nickte.
»Vor vielen tausend Jahren, da waren die Menschen noch Götter. Das war, bevor sie von den Sternen gefallen sind. Luzifer war einer von diesen Göttern. Sein Name bedeutet Träger des Lichts, denn er war von dem Morgenstern Venus herabgekommen. Und Lilith ist die Gefährtin dieses ersten Menschen gewesen … seine ewige, unveränderliche Geliebte.«
Dass Lilith Luzifer die Unsterblichkeit schenkte, indem sie ihre Kinder opferte, unterschlug José. Auch dass er selbst davon überzeugt war, der wirkliche Name Adams laute Luzifer.
»Aber ist Luzifer nicht der Teufel?«
»Das ist eine Lüge, die das Christentum gern verbreitet.«
José wischte ihr die Tränen vom Gesicht. Ein Unwetter war vorübergezogen, das nächste braute sich über ihren Köpfen schon zusammen.
»Und was ist das hier?«
»Ein Tempel.«
»
Blitzkrieg
«, murmelte Lilith.
»Was sagst du da?«
»Das haben Sie doch eben dauernd gesagt, unten am See …
Blitzkrieg
.«
»Blitz … Das ist das, was nach dem Donner kommt …«, antwortete José und suchte nach dem spanischen Wort.
Unvermittelt stapfte er wieder los, um das Gelände um die Bunkerruinen nach einem Eingang zu durchforsten. Aber da war nichts. Anders als in seinem Traum gab hier es keine unterirdischen Gänge mehr. Bloß noch ein paar lose Steine.
»
Blitzkrieg!
«, wiederholte Lilith in seinem Rücken.
Nur so hätten sie siegen können: mit einer kurzen, heftigen Attacke. Wie oft hatte José sich gefragt, was passiert wäre, wenn der Führer in England eingefallen wäre, den König zum Kriegsgefangenen genommen und dessen Bruder wieder auf den Thron gesetzt hätte. Stattdessen saß man dem Irrglauben auf, irgendwelche heiligen Gebiete erobern zu müssen, die letzten Reste eines versunkenen Polarkontinents – aber ohne England an der Seite Deutschlands konnte keine neue Weltordnung hergestellt werden … Während José in sein Geschichtshadern verfiel, hielt Lilith sicherheitshalber Abstand. Sie spürte, wie ihr die Kälte in die Knochen kroch, beschwerte sich aber, selbst als der Regen losbrach, mit keinem Ton. So hatte sie José noch nie gesehen … so abgrundtief … verzweifelt. Was auch immer diese Trümmer bedeuteten – sie mussten von immenser Wichtigkeit sein.
Auf dem Rückweg sprachen sie kein Wort miteinander.
Lilith schwante, dass ihr für ihr Ausbüxen eine gepfefferte Strafe drohte. Daran wollte sie aber jetzt nicht denken. Das alles kam ihr vor wie ein Spiel.
»Wir sagen einfach, Sie hätten mich auf der Straße aufgelesen«, schlug sie vor, kurz bevor sie die Pension erreichten. Hinter den Fensterscheiben tobte das Unwetter.
José nickte stumm, den Blick starr auf die Straße geheftet, die zwischen den in hektischem Bogen hin- und herfahrenden Scheibenwischern verschwamm. Die Sorgen seiner kleinen Begleiterin interessierten ihn in diesem Augenblick herzlich wenig. Jahre später würde sich Lilith an diese Fahrt erinnern; und sie würde sagen, dass sie an diesem Tag zum ersten Mal das deutliche Gefühl gehabt hatte, dass José vor irgendjemandem oder irgendetwas auf der Flucht war.
In den nächsten Tagen setzte sie keinen Schritt vor ihre Zimmertür. Schuld daran war jedoch nicht der befürchtete Stubenarrest, sondern ein hohes Fieber, das bis auf vierzig Grad anstieg. Sie spürte jeden Knochen und jeden Muskel; selbst die Kopfhaut und die Wimpernansätze schmerzten. Trotz ihrer Qualen beichtete sie ihrer jedoch Mutter nicht, dass José ihr die doppelte Hormondosis verabreichte, seit sie einmal allein bei ihm gewesen war. Eva war durch den unerwarteten Gästeansturm an einem verlängerten Wochenende voll in Anspruch genommen gewesen und hatte nichts bemerkt. Lilith sah, wie José an jenem Abend eine ganze statt einer halben Ampulle aufzog, und sagte:
»Das ist mehr als
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