Wakolda (German Edition)
Weiter vorn wurde ein Tor geöffnet. José begrüßte jemanden auf Deutsch, das Tor fiel quietschend ins Schloss. Dahinter wurde jetzt das Horst-Wessel-Lied angestimmt; Lilith kannte es zur Genüge, es war das Lieblingslied einiger ihrer Schulkameraden. Beim Refrain setzte Livemusik ein und begleitete die restlichen Strophen. Lilith pirschte sich weiter heran, bis ihr das von Schlingpflanzen zugewucherte Eisentor den Weg versperrte. Dort harrte sie eine ganze Weile auf ihrem Posten aus. Zu sehen bekam sie jedoch nichts.
9
Josés deutscher Bekannter beim Bürgeramt hatte nach längerer Suche eine geeignete Fabrik für die Puppenherstellung ausfindig gemacht. Bevor er José davon unterrichtete, war er sogar persönlich in das mehrere hundert Kilometer entfernte Trelew gereist, um sich zu vergewissern, dass die vorhandenen Maschinen auch wirklich taugten. Und nach einer behutsamen, aber gründlichen Puppenfahndung bei den wohlhabenden Familien Bariloches hielt José die einzige Importpuppe der ganzen Region in den Händen. Denn wie er kürzlich hatte feststellen müssen, stand die prächtige Herlitzka als Modell ja nicht mehr zur Verfügung.
»Wozu brauchen Sie sie denn?«, hatte Lilith erst ausweichend gefragt, als er sie bat, ihm Herlitzka für ein paar Tage auszuleihen.
»Ich will sie als Vorlage verwenden … Die Puppen, die dein Papa macht, sollen doch ganz und gar perfekt werden, nicht wahr?«
Am nächsten Abend steckte Lilith Wakolda in ein französisches Kleidchen, flocht ihr zwei Zöpfe und legte sie ihr liebevoll um den Kopf, auf Tiroler Art, wie ihre Großmutter es ihr beigebracht hatte. Wakoldas Indianerponcho stopfte sie in eine Schublade und wickelte Wakolda, die, auch als Europäerin verkleidet, noch recht indianisch aussah, in das handgestrickte, rosafarbene Deckchen.
Auf Josés Zimmer erhielt sie ihre Spritze und wartete, bis die Dosis in dem schwarzen Heft vermerkt war, dann lupfte sie das Deckchen. José starrte entgeistert auf die schlichte, dunkle Mapuche-Figur aus Holz und Stoff. Er schnaubte verächtlich.
»Was soll das denn sein?«
»Das ist Wakolda.«
»Und wo ist Herlitzka?«
»Die ist in der Wüste.«
»Hast du sie etwa bei diesen Leuten liegenlassen?«
»Na ja … es war eher eine Art Tauschgeschäft.«
»Du hast Herlitzka gegen
das
hier eingetauscht?«
»Mmh.«
»Und wieso, wenn ich fragen darf?«
»Ich weiß auch nicht«, murmelte Lilith kläglich und sah ihn unsicher an.
José riss der Puppe das Herlitzka-Kostüm vom Leib. Sein schöner Plan war zunichte. Ausgeschlossen, in Bariloche eine Puppe zu finden, die so vollkommen war wie Herlitzka. Diese abscheuliche Hexe hier hatte jedenfalls nicht das Geringste mit ihr gemeinsam. Arme und Beine waren aus Holz gefertigt, der Körper aus alten Stofffetzen. Zu mehr hatte es offenbar nicht gereicht. Der Bauch war aufgebläht wie bei der jugendlichen Schwangeren in der Wüste. Und erst das Gesicht – die Krönung der Hässlichkeit: grob geschnitzte Züge, kohleschwarze Augen, ein unangenehm stechender Blick. José hatte einiges über die Gefahren der Rassenvermischung in Argentinien gelesen. Vor ihrer Dezimierung hatte die indianische Bevölkerung ein Drittel der argentinischen Gesamtbevölkerung ausgemacht. Schon Sarmiento und Alberdi waren davon überzeugt gewesen, dass eine überwiegend mestizische und indianische Bevölkerung von europäischem Blut profitieren würde. Wakolda war der beste Beweis dafür, dass es reine Zeitverschwendung war, sich mit Kreaturen zu befassen, die minderwertigen Rassen entsprangen. Lilith bemerkte seinen missbilligenden Blick und deckte Wakolda hastig wieder mit dem Deckchen zu.
»Als Modell taugt diese Missgeburt da natürlich nicht … Aber wir könnten mit ihr vielleicht etwas ausprobieren …«
»Was denn ausprobieren?«
»Wir könnten versuchen, sie schöner zu machen.«
»Kommt nicht in Frage. Wakolda bleibt, wie sie ist!«, rief Lilith empört, schüttelte den Arm ab, den er ihr beschwichtigend auflegen wollte, und rannte aus dem Zimmer. Am nächsten Tag rief José seinen deutschen Bekannten beim Bürgeramt an. Er brauchte eine ordentliche Importpuppe, und zwar so schnell wie möglich.
Er selbst hatte die Suche nicht mehr weiter verfolgt, als der Bekannte einige Zeit darauf in der Tierarztpraxis vorbeischaute, um die von ihm erstandene Puppe samt ihrer Doppelgängerin vorzuführen. Die Nachbildung war ihrem Vorbild getreu gekleidet, wie ein perfekter Zwilling. Der Bekannte hatte seine
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