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Wakolda (German Edition)

Wakolda (German Edition)

Titel: Wakolda (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucia Puenzo
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sonst.«
    José nickte und schnipste gegen die Spritze. Er hatte damit gerechnet, dass Lilith den Unterschied bemerken würde, schließlich war sie eine aufmerksame Beobachterin.
    »Ab heute bekommst du ein bisschen mehr. Damit du noch schneller wächst …«
    Gespannt verfolgte Lilith, wie José den Zeigefinger auf die Messleiste im Türrahmen legte und fünf Zentimeter hochrutschte.
    »Wenn du bis hierhin reichst, werden wir sie mit unserem Erfolg überraschen.«
    Lilith hatte versprochen, ihren Eltern nichts zu sagen. Sie war inzwischen ganz besessen von der Idee zu wachsen. Nun wusste sie aber nicht, ob ihre Schwäche vom Fieber herrührte oder von den gespritzten Hormonen oder davon, dass sie sich so anstrengte, endlich über sich hinauszuwachsen. Trotz allem hatte es zwei Wochen gedauert, bis sie den Strich am Türrahmen ein paar Millimeter höher ziehen konnte. Manchmal war sie nachts aufgewacht, barfuß auf den Flur hinausgestolpert und durch das dunkle Haus geschlichen. Sie hatte sich auf die Schwelle von Josés verschlossener Tür gestellt und sich an der Messleiste hochgereckt, so weit es ging.
    Überhaupt schlief Lilith in letzter Zeit schlecht.
    »Es ist ein Horrorfilm«, hatte Otto versprochen, der sie zu ihrem ersten Besuch im einzigen Kino des Ortes einlud.
    »Aha«, erwiderte Lilith knapp, Otto sollte nicht merken, dass sie keine Ahnung hatte, was das bedeutete, also wandte sie sich schnell dem Filmplakat zu, das neben der Kasse hing.
Teenage Zombies
prangte da in blutroten Lettern über einem blonden Mädchen in einem Käfig, das schreiend in die Kamera blickte.
    »Du wirst danach bestimmt nicht schlafen können«, hatte Otto sie gewarnt, während sie sich in die Kinosessel gleiten ließen.
    Als auf der Leinwand zwei junge Frauen von einer wahnsinnigen Wissenschaftlerin und einer Horde Zombies auf eine einsame Insel verschleppt und in eine Glaskapsel gesperrt wurden, in der sie mittels Gas einer Gehirnwäsche unterzogen werden sollten, schrie der ganze Saal wie am Spieß. Berauscht von so viel geteilter Angst, fiel Lilith in das Geschrei mit ein, und als dann auch noch einer der Zombies über die Hauptdarstellerin herfiel, krallte sie Otto mit aller Kraft ihre Fingernägel in den Arm.
    »Glaubst du, Zombies gibt es wirklich?«, erkundigte sich Lilith unsicher, als sie nach dem Film draußen auf ihre Fahrräder stiegen.
    »Quatsch«, behauptete Otto.
    Besonders überzeugt klang es nicht.
    »Also ich glaube schon.«
    Der Film hatte bei Lilith tiefen Eindruck hinterlassen. In den folgenden Nächten wurde sie von Albträumen geplagt. Immer wieder träumte sie, dass sie zum Zombie wurde, und schreckte immer kurz vor ihrer Verwandlung aus dem Schlaf. Als sie eines Nachts wieder mit einem stummen Schrei auf den Lippen aufwachte und zitternd die Augen aufschlug, dachte sie im ersten Moment, sie träume noch immer. Seltsame Geräusche, Gesprächsfetzen und Gelächter drangen aus dem Nachbargarten durch das offene Fenster. Sie presste Wakolda an sich und tappte mit unsicheren Schritten zum Fenster. Auf dem Nachbargrundstück schien eine nächtliche Feier im Gange zu sein, doch die hohen Bäume verdeckten die Sicht. Lilith hätte zu gern gewusst, was dort drüben vor sich ging. Was waren das für Männer und Frauen, die immer mit diesen Wasserflugzeugen an- und abreisten? Wieso setzten sie nie einen Fuß vor die Tür? Wem gehörte das Haus überhaupt? José war einige Male von dem schwarzen Wagen des Nachbarn abgeholt worden, immer hatte der Chauffeur am Gartentor mit offener Wagentür auf ihn gewartet. Lilith horchte auf. Unten hatte sich etwas bewegt: José war aus dem Haus getreten und schloss jetzt leise die Tür hinter sich. Er ging aber nicht zu seinem Chevrolet, sondern quer durch den Garten in Richtung See. Ohne lange zu überlegen, schlüpfte Lilith in ihre Regenstiefel und lief die Treppen hinunter. Als sie die Tür öffnete, spazierte der Deutsche gemächlichen Schrittes durch den Rosengarten ihrer Großmutter und schien sein Ziel genau zu kennen. Kurz vor dem Hang, der zum Nahuel Huapi hinunterführte, wandte er sich nach rechts und verschwand in dem dichten Wäldchen aus Tannen und Akazien, das kaum jemand je betrat. Lilith hatte sich hierher höchstens beim Versteckspiel mit ihrem Bruder verirrt. Zögernd blieb sie am Rand des Waldstücks stehen. Sie sollte besser umkehren, befahl sie sich, huschte dann aber doch weiter auf den schmalen Pfad, über dem die Bäume nur ein enges Spalier bildeten.

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