Wakolda (German Edition)
sie zu. Als die Krankenschwester mit den Sauerstoffflaschen erschien, wandte sich José auf der Stelle von seiner Patientin ab. Die Zeit drängte, sie mussten den Zustand der Zwillinge stabilisieren. Lilith, die sich unentschlossen an der Tür herumdrückte, schnappte ein paar Worte auf, die José mit der Krankenschwester wechselte. Diese verrichtete ihre Arbeit mit großer Professionalität, war aber am Zustand der Neugeborenen nicht im Geringsten interessiert. Ihretwegen war sie nicht gekommen.
»Ich soll Ihnen sagen, das Flugzeug ist startbereit.«
»Ich bin noch nicht so weit.«
»Sie sind angeblich schon in Buenos Aires. Und Sie sind als Nächster dran.«
Skeptisch beobachtete Enzo die beiden Deutschen aus den Augenwinkeln, während er Eva feuchte Tücher auf die Stirn legte; er verstand kein Wort von dem, was sie redeten. Jetzt machte sich die Krankenschwester daran, den Neugeborenen Sonden zu legen. Die Eltern wurden nicht gefragt.
»Wie konnte das passieren?«, fragte José.
»Sie haben ihn entführt.«
»Aber es kann doch unmöglich sein, dass niemand Bescheid wusste.«
»Sie haben in Buenos Aires nachgefragt«, erwiderte die Schwester. »Kein Mensch hat etwas gewusst.«
Die Zwillinge waren so schwach, dass sie beim Einstich der Sondennadeln nicht einmal schrien. José wies seine Assistentin an, den beiden sofort die Mittel zu verabreichen, die er bei ihr bestellt hatte.
»Sie sind hier einfach nicht mehr sicher. Zwillinge finden Sie doch überall.«
José horchte ohne Hektik das Körperchen der Kleineren ab. Ein triumphierendes Lächeln trat auf sein Gesicht.
»Keine Sorge, ich kann selbst auf mich aufpassen.«
Die Schwester nickte.
»Wenn Sie mich brauchen, finden Sie mich unten.«
Enzo verstand zwar nicht, was vor sich ging, trotzdem beruhigte es ihn, dass die Schwester die Nacht über bei ihnen bleiben würde.
»Wer sind diese Leute eigentlich?«, fragte er José, als sie gegangen war.
»Freunde von mir.«
»Und warum sind sie so hilfsbereit?«
José hob den Blick vom Zwillingsbettchen. Wieder hatte er dieses merkwürdig entrückte Lächeln im Gesicht.
»Machen Sie sich keine Gedanken. Sie wollen mir eben einen Gefallen tun.«
Lilith hatte sich in ihr Zimmer verzogen und saß auf ihrem Bett. Langsam zog sie sich aus, legte wie bei einem feierlichen Ritual behutsam jedes einzelne ihrer blutbefleckten Kleidungsstücke ab. An ihrem Bauch waren die Einstiche der Spritzen zu sehen; schon seit mehreren Monaten verabreichte ihr José nun Hormone. Manchmal, wenn sie nachts im Bett lag, waren die Schmerzen so stark, dass sie sich am liebsten Arme und Beine ausgerissen hätte. In der Wirbelsäule zog es, im Nacken, in den Knien und den Ellbogen stach es. Licht, Kälte und Hitze waren ihr zeitweise unerträglich. Mal zitterte sie, im nächsten Moment war sie wieder schweißgebadet, dazu kam die ständige Kieferverkrampfung. Selbst ohne die Symptome der Grippe, die nun noch hinzukamen, litt ihr Körper unentwegt. Die Präparate, die ihr José spritzte, breiteten sich bis in den letzten Winkel aus, krochen bis in die Knochen und drängten sie mit Gewalt zum Wachstum. Niemand konnte erahnen, wie sich das anfühlte. Nur José hatte dieses Martyrium bereits an seinen früheren Opfern mit Interesse studiert.
Im Moment hatte er für Liliths Zustand jedoch wenig Aufmerksamkeit übrig. Durch die Ereignisse aufgewühlt, ja geradezu euphorisch, spürte er keine Erschöpfung und dachte nicht an Schlaf. Er nahm sich sein Heft vor und fertigte detailversessene Zeichnungen von den Zwillingen an; dazu notierte er alle möglichen Daten und Fakten: über ihr schwach entwickeltes Immunsystem, die minder ausgeprägten Lungenbläschen, die verlangsamten Reflexe und den fehlenden Muskeltonus. Er dokumentierte sämtliche körperlichen Unterschiede, die die beiden aufwiesen, und stellte Berechnungen zu ihrem voraussichtlichen Wachstum an. Am liebsten wäre er alle fünf Minuten nachschauen gegangen, wie es ihnen ging; nur mit Mühe beherrschte er sich. Gerade dann, wenn kein Gewimmer zu hören war, horchte er auf. Zwischendurch meldete sich auch der jüngste Sohn immer wieder lautstark zu Wort; der Kleine schrie und winselte jämmerlich, weil man ihn wegen seines fiebrigen Zustandes nicht in das elterliche Schlafzimmer ließ.
Zu Sonnenaufgang hörte José das schwache Frühchen weinen. Wenn die Kleine die ersten zwölf Stunden überlebt hatte, bestand Hoffnung; über den Berg war sie aber noch längst nicht. José
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