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Wakolda (German Edition)

Wakolda (German Edition)

Titel: Wakolda (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucia Puenzo
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war bewusst, dass er dringend seine Sachen hätte packen sollen, doch er konnte der Versuchung nicht widerstehen. Als Eva ihn fragte, ob er noch einmal nach der Kleinen sehen würde, schob er seinen Aufbruch mit Freuden auf. Das kleine Würmchen schien noch schwächer als unmittelbar nach der Geburt, es nahm die Brust nicht und war außerdem in einen tiefen, ohnmachtsgleichen Schlaf gefallen.
    Wären sie Haifischbrut, dann hätte ihre Schwester sie noch im Mutterleib aufgefressen
, dachte er, als er sie betrachtete; sie war wirklich winzig, dazu bleich und knittrig wie eine alte Frau.
    »Wieso trinkt sie denn bloß nicht?«, erkundigte sich Eva verzweifelt.
    »Die Saug- und Schluckreflexe funktionieren nicht. Der Magen ist noch zu klein, sie hat zu wenig Verdauungssäfte. Ihr Verdauungsapparat ist noch nicht fertig ausgebildet«, erläuterte José sachlich.
    Er rief die Krankenschwester. Sie sollte Eva helfen, eine Spritze mit Muttermilch aufzuziehen; diese wurde an der Schulter fixiert und von dort eine Nahrungssonde gelegt. Eva saß aufrecht im Bett, gegen das Kopfteil gelehnt, José legte ihr die Kleine an und half geduldig dabei, dass sie endlich die Brust nahm. Die Nahrung gelangte zwar über die mit der Spritze verbundene Sonde in ihren Körper, doch auf diese Weise werde sie die Nahrungsaufnahme mit der Brust assoziieren, erklärte José und markierte auf der Spritze die Milchmenge, die alle drei Stunden zu verabreichen war: vier Kubikzentimeter. Der Wachstumsprozess werde allerdings nur dann in Gang kommen, wenn sie mit Nährstoffen angereichert werde.
    »Könnten Sie nicht doch noch eine Weile bleiben? Wenn ich Sie darum bitte? Sie haben doch so viel Erfahrung.« Eva klang ganz verzagt.
    Zwei Tage
, schwor sich José.
    Das Schicksal seiner Ersatzfamilie war ihm gleichgültig, nicht jedoch die Erforschung des Zwillingsphänomens. Und auch die Vorstellung, seinen Aufenthalt in Patagonien bis zum Allerletzten auszuschöpfen, ihn bis an die absolute Grenze des Möglichen auszudehnen, bereitete ihm einen unwiderstehlichen Nervenkitzel. Also tätigte er kurzentschlossen ein paar Anrufe. Noch vor dem Mittagessen traf ein Wagen mit zwei Brutkästen ein; Enzo nahm sie in Empfang und trug sie nach oben. Josés übermäßige Fürsorge wurde ihm immer unbehaglicher. Als der sich endlich für einen Moment zurückzog, half er seiner Frau mit der Kleinen; nach der Sauerstoffgabe atmete sie inzwischen deutlich besser. Enzo stand am Fenster und sah, wie sich José draußen im Schnee mit den beiden Männern unterhielt, die die Brutkästen gebracht hatten. Sie schienen zu streiten.
    »Ich möchte, dass die Kleinen ins Krankenhaus kommen.«
    Eva horchte auf. Ihr Mann klang ernsthaft verärgert.
    »Sie werden nirgendwo so gut aufgehoben sein wie hier, unter seiner Aufsicht«, wandte sie ein.
    »Ich will niemandem etwas schuldig sein«, gab Enzo schroff zurück.
    Eva schwieg eine Weile, dann sprach sie mit gesenkter Stimme, sah ihren Mann nicht an, als schäme sie sich. Den Blick fest auf das winzige Neugeborene in ihrem Arm geheftet, erklärte sie, es sei ihr gleichgültig, wer er sei, sie wolle ihn hier haben und sie traue seiner Erfahrung voll und ganz.
    Deswegen willigte sie auch ein, als der Deutsche vorschlug, der Kleineren, deren Haut immer noch bläulich war, Wachstumshormone zu verabreichen. Sie hatten nichts zu verlieren.
    Früher hatte sich Enzo eine Zeitlang an der Vogelaufzucht versucht. Mithilfe eines selbstgezimmerten Inkubators war es ihm nach einigen gescheiterten Versuchen gelungen, einen Wurf Wachteln durchzubringen. Der hermetisch abgedichtete Holzkasten hatte die notwendige Temperatur und Feuchtigkeit wochenlang gehalten. Nun stand Enzo vor den dürftigen Brutkästen, die Josés Bekannte auf die Schnelle besorgt hatten, und hörte sich die Erklärungen des deutschen Arztes an. Die Brutkästen bräuchten einen leistungsstärkeren Wärmegenerator, eine bessere Lüftung und einen Temperaturregler. Um den schwachen Atmungsapparat vor allem der Kleineren zu unterstützen, mussten Feuchtigkeit und Sauerstoffkonzentration reguliert werden. Für den Fall, dass Gewebe und Gehirn nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt wurden oder sie bei der Nahrungsaufnahme nicht aufholte, sollte der Brutkasten mit einem Eingriffloch und einem Schlauch versehen werden, durch den unter Verwendung eines sterilisierten Handschuhs und einer Pipette tröpfchenweise angereicherte Muttermilch verabreicht werden konnte. Man musste damit

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