Wakolda (German Edition)
folgenden Tagen schneiten sie endgültig ein. Der Nahuel Huapi fror für einige Tage zu, doch es herrschte so klirrende Kälte, dass sich nur einige wenige Abenteuerlustige aufs Eis wagten. Das Haus wollte nicht mehr richtig warm werden, dabei brannten die Öfen Tag und Nacht. Lilith verbrachte mehrere Tage mit Wärmflasche im Bett. Hätte nicht das hohe Fieber sie so sehr geschwächt und ihren Verstand verwirrt, sie hätte ihre Eltern angefleht, sie nicht mit José allein im linken Flügel zu lassen. Die nächtlichen Geschehnisse in dem Landgasthof bei Trelew lasteten wie Albträume auf ihrer Kinderseele, und vor allem nachts, wenn das Fieber stieg, wurde sie von den Bildern heimgesucht. Doch ihre Eltern hörten ihr Wimmern und Weinen nicht. Luned, die sie mit feuchten Wickeln versorgte, war überzeugt, ihre unerklärlichen Angstzustände würden verschwinden, wenn sie nur endlich die Lungenentzündung in den Griff bekämen.
Liliths Zimmer lag jetzt gleich neben seinem, und mehrmals täglich kam er sie besuchen. Er maß Fieber, horchte sie ab, befühlte die Lymphknoten am Hals und berichtete ihr von den langsamen, aber immerhin spürbaren Fortschritten, die die Zwillinge machten. Die kleine Berta, für die es so schlecht ausgesehen hatte, hatte nun offenbar doch das Schlimmste überstanden. Eines Abends ließ José Lilith ein lauwarmes Bad ein, um die vierzig Grad Fieber zu senken. Lilith zog sich bis auf den Schlüpfer aus, lehnte sich in der Wanne zurück, schaute auf ihren zerschundenen Bauch und schloss leise stöhnend die Augen. Die unzähligen Spritzen der letzten Monate hatten um ihren Bauchnabel herum ein exaktes Stichnarbenmuster hinterlassen. Die Markierungen am Türrahmen bewiesen es: Sie war in den fünf Monaten tatsächlich einige wenige Zentimeter gewachsen. An die Möglichkeit, dass ihr gesundheitlicher Zustand mit etwas anderem als der grassierenden Grippe und der Lungenentzündung zusammenhängen könnte, verschwendete niemand einen Gedanken. Als Lilith die Augen aufschlug, fiel ihr Blick auf José, der in der Ecke saß und auf ihren zitternden Körper starrte.
»Gehen Sie weg!«
»Willst du wirklich, dass ich gehe?«
»Ja.«
Es war mehr ein Flehen als ein Befehl. Sie wussten beide, dass niemand den Mann, der ihren kleinen Zwillingsschwestern gerade das Leben rettete, vor die Tür setzen konnte. Und ob sie wirklich wollte, dass er ging, hätte sie kaum klar sagen können – wenngleich ihr seine Nähe immer unbehaglicher wurde. Jetzt, im Fieberwahn, nahm sie das allabendliche Spritzenritual verzerrt wahr. Sie hatte das merkwürdige Gefühl, ihr Körper gehöre nicht mehr ihr, sondern ihm. Aber alles musste so sein, wie es war. Widerstandslos ließ sie sich in der Wanne aufstellen und den Schlüpfer herunterschieben. Mit entrücktem Lächeln sah sie dabei zu, wie sich die Nadel in ihre Haut senkte, und fragte:
»Wieso bauen Sie sie nicht endlich zusammen?«
»Du meinst die Puppen? Das mache ich, wenn es den Zwillingen besser geht.«
Er zog die Nadel heraus. Lilith glitt ins Wasser zurück. Seit Tagen hieß es immer nur:
Wenn es den Zwillingen besser geht
. Die Zwillingsgeburt war die perfekte Ausrede.
»Ich weiß, dass Sie lügen!«, rief Lilith.
Wortlos griff José nach einem Waschlappen und fuhr ihr über Rücken und Arme.
»Geben Sie es zu: Sie wollen gar nicht, dass sie fertig werden«, sagte sie vorwurfsvoll.
José schob ihr die Knie auseinander und fuhr mit dem Waschlappen dazwischen.
Lilith hatte Recht. Er fand heimlichen Gefallen daran, die Puppen in Einzelteile zerlegt zu lassen. Am Nachmittag war sie mit letzter Kraft bis zu seinem Zimmer gewankt und hatte die Tür aufgestoßen, die José inzwischen nicht einmal mehr absperrte. Das ganze Zimmer war vollgestopft mit Puppenteilen. Überall standen Taschen mit Köpfen, Armen und Beinen, die im Spiegel bis ins Unendliche vervielfacht schienen. Auf der Kommode lagen die blonden Haarschöpfe, auf dem Schreibtisch die Glasaugen ... Auch die von der fleißigen Luned mit der Hand genähten Kleidchen waren schon fertig. Jetzt, wo alles fertig war, hatte es keiner mehr eilig, die Puppen zusammenzubauen und zu verkaufen. Das Zwillingsdrama hatte die großen Geschäftspläne genauso plötzlich wieder von der Tagesordnung verdrängt, wie sie aufgetaucht waren.
Lilith stöberte zwischen den Taschen herum, versenkte die Hand zwischen den Glasaugen und griff sich ein Paar heraus. Sie schnappte sich einen Kopf und drückte die Augen in die
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