Wakolda (German Edition)
dafür vorgesehenen Höhlen. Auf einmal sah das Puppengesicht sie an, ein kahler Schädel ohne Körper, ohne alles. Sie steckte den Hals in den Rumpf, setzte Arme und Beine an und legte provisorisch den Haarschopf auf. Plötzlich merkte sie, wie das Fieber wieder anstieg, abends bekam sie oft solche Schübe, und dann war sie zu nichts mehr imstande. Kurzentschlossen stopfte sie alles in die Taschen und schleppte sie in ihr Zimmer hinüber. Als einige Zeit später der französische Fotograf an die Tür klopfte, um sich zu verabschieden, saß sie, inmitten Dutzender Puppenkörperteile, mit glasigen Augen und schweißnasser Stirn auf ihrem Bett. Sechs Puppen hatte sie fertig und sogar schon die blonden Locken angenäht – genau so, wie José es ihr beigebracht hatte. Auch die Glasaugen saßen bereits an ihrem Platz. Von den übrigen Puppen waren einzelne angefangen, warteten, blind und in komisch verdrehter Haltung, auf Beine, Arme und Augen. Der Franzose betrachtete die wüste Szenerie amputierter Porzellanbabys und sah sich nur bestärkt in seiner Entscheidung, dass man in diesem Haus nicht länger bleiben konnte. Er schlüpfte ins Zimmer, legte Lilith einen Arm um die Schultern und flüsterte:
»Wenn irgendetwas nicht in Ordnung ist, kannst du es mir sagen, ja?«
Lilith nickte, brachte aber keinen Ton heraus.
Stattdessen bat sie den Franzosen, noch schnell ein Puppenfoto zu machen, das sie in der Schule ans Schwarze Brett hängen konnte. Jemand musste sich schließlich um den Verkauf kümmern. Dieses letzte Bild entwickelte der Fotograf noch in der Nacht, bevor er früh am nächsten Morgen mit seiner Frau abreiste. Er war sich sicher, dass die Aufnahme früher oder später zur Entlarvung des Deutschen führen würde. Sobald sie Bariloche weit genug hinter sich gelassen hatten, würde er einige Anrufe tätigen, nahm er sich vor. So langsam war ihm nämlich aufgegangen, welche Art Verbindungen hier in Bariloche existierten. Und er war nicht der Einzige. Nicht umsonst fühlte sich José bei seinen Fahrten in die Stadt in letzter Zeit immer wieder beobachtet, an manchen Tagen witterte er hinter jedem Passanten einen möglichen Denunzianten. Manchmal steigerte sich der Nervenkitzel bin ins Unerträgliche, doch immer noch weigerte er sich, seine Koffer zu packen. Obwohl Freunde und Bekannte drängten, alles für die Flucht vorbereitet war und der Nachbar das Flugzeug startbereit hielt.
José vertröstete sie ein ums andere Mal:
»Morgen fahre ich.«
Die Nachmittage verbrachte er im Hinterzimmer der Tierarztpraxis über den Blutproben der Zwillinge. Eva sträubte sich nicht mehr dagegen, dass er ihr oder ihren Töchtern ständig Blut abnahm. Sie hätte ihre Seele verkauft dafür, dass er ihre Kleinen nicht sterben ließ. Ebenso wie draußen der Schnee das Leben beinahe zum Erliegen gebracht hatte – alles lag unter der dichten weißen Decke begraben –, war auch drinnen im Haus alles erstarrt, und jeder hatte seine Rolle zu erfüllen.
Eva war ganz und gar Muttertier und hatte einzig das Wohl ihres Nachwuchses im Sinn.
José war der Hauptbefehlshaber.
Und Lilith seine Gefangene.
Je mehr sich ihre Lungenentzündung verschlimmerte, desto klarer sah sie, dass sie auf unbestimmte Zeit im linken Flügel festsaß. Isoliert. In Quarantäne. Sie resignierte, machte bald gar keine Anstalten mehr, jemanden sehen zu wollen. Die Familienmitglieder kommunizierten ohnehin nur noch das Allernötigste: über kleine Zettel, die José überbrachte, der einzig Befugte, die Schwelle zwischen Gesundheit und Krankheit zu überschreiten, als verfüge er über eine besondere Immunität.
12
Nora Eldoc traf an dem Abend in Bariloche ein, an dem die kleine Alicia endgültig den Brutkasten verließ und in das neue weißlackierte Kinderbettchen übersiedelte, das Enzo für die Zwillinge gezimmert hatte. Das Flugzeug setzte auf der schneebedeckten Landepiste auf. Ob sie diesmal am Ziel war? Sie hatte ihr Leben der Suche nach diesem Mann geopfert, und sie würde nicht lockerlassen, bis sie ihn gefunden hatte. Es war neulich im Bett eines nach Schweiß stinkenden, mächtigen und reichen Mannes gewesen. Wie vor ihm so vielen anderen hatte sie ihm ihren Körper überlassen, damit er damit tat, was ihm gefiel. Während der Mann auf ihr herumkeuchte, war Noras Blick ziellos im Zimmer umhergewandert und war am Bücherregal hängengeblieben. Sie hielt irritiert inne. Zwischen diversen Bänden esoterischer Naziliteratur, in der viele Sympathisanten
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