Wakolda (German Edition)
Nora gehörte, das hatte Arko gleich gesehen, zu jener Sorte Frauen, für die Verbindlichkeit ein Schimpfwort war. Nora hingegen quälte sich währenddessen mit der Vorstellung, dass sie womöglich dasselbe Pflaster betrat, durch dieselben Straßen spazierte wie der Mann aus ihren Albträumen. Dass dieser Verbrecher, dem sie seit mehr als zehn Jahren auf den Fersen war, in einem Paradies wie diesem hier lebte, machte sie fassungslos, wenn sie aus dem Fenster der Bar blickte, in der sie nun mit dem Slowenen saß. Arko, der sensibler war, als Nora dachte, blieb nicht verborgen, dass seine Begleiterin sich zwar unnahbar gab, aber im Grunde eine gebrochene Frau war. Sie hatte dunkle Augenringe, die auch das Make-up nicht vollständig kaschieren konnte, und ihre linke Hand zitterte leicht. Nach dem dritten Drink hielt er sich nicht mehr zurück:
»Werden Sie länger hier bleiben?«
»Zwei Wochen.«
»Und sind Sie allein unterwegs?«
Nora sah ihm in die Augen und lächelte kaum merklich:
»Ein Freund von mir, ein Deutscher, wohnt hier, ich weiß nur nicht genau, wo. Nur, dass er hier in Bariloche lebt.«
Sie nahm winzige Schlucke von ihrem Gin Tonic und fragte sich, ob der Mann, den sie suchte, sie erkennen würde, wenn sie einander gegenüberstanden. Da sie aber schon allzu vielen falschen Fährten gefolgt war, machte sie sich keine großen Hoffnungen, dass es dazu überhaupt kam.
»Darf ich Sie etwas fragen, Otto?«
Sie biss auf einen Eiswürfel und ließ die Stücke auf der Zunge zerschmelzen. Die Leute vom Mossad mussten einen äußerst ausgeklügelten Plan entwerfen, um seine Auslieferung zu erreichen. Sie hingegen würde sich mit einer gemeinsamen Nacht zufriedengeben.
»Wie oft haben Sie schon Menschen geborgen, die dem Schnee zum Opfer gefallen sind?«
»Hunderte. Hunderte Tote.«
»Und was haben Sie in ihren Augen gelesen? Resignation oder Überlebenswillen?«
»Wollen Sie das wirklich so genau wissen?«
Nora nickte.
»Menschen, die in den Bergen den Tod finden, haben die Augen meist weit aufgerissen. Das Ende kommt unerwartet. Der Kältetod ist so. Die Kälte kriecht einem in die Knochen, und dann ist es plötzlich aus.«
Nora wollte etwas erwidern, aber Arko entgegnete:
»Ich bin dran.«
»Fragen Sie.«
»Warum macht sich eine Frau wie Sie so viele Gedanken über den Tod?«
Nora beließ es bei einem Lächeln und einem vagen:
»Gibt es etwas Interessanteres als den Tod?«
Als sie die Bar verließen, schlug ihnen die frische Bergluft ins Gesicht. Die ersten, noch winzigen Schneeflocken fielen. An der nächsten Häuserecke deutete Nora lächelnd auf ein paar tapsige Welpen im Schaufenster einer Tierarztpraxis und blieb stehen, um ihnen zuzuschauen. Mit einem Mal fühlte sie sich wie eingeschnürt in ihrem Anorak und zog hastig den Reißverschluss auf. Ihr schwindelte, sie musste sich an der Fensterscheibe abstützen. Dass der Mann, den sie suchte, sich wenige Meter von ihr entfernt über die Blutproben der Zwillinge beugte, konnte sie nicht ahnen. Arko legte ihr schnell einen Arm um die Hüfte. Nora war leichenblass und rang nach Luft.
»Ist alles in Ordnung?«
»Nur der Kreislauf.«
»Ich bringe dich ins Hotel«, erklärte er, sie mit einem Mal duzend. Nora antwortete nicht. Im ersten Augenblick schrieb er es dem Alkohol zu, dass sie sich einfach losriss und zur nächsten Ecke rannte, doch dann sah er sie geradewegs auf das Gebäude der Deutschen Schule zusteuern. Sie stürmte die Treppen hinauf, zog das schwere Eingangstor auf und schlüpfte hinein. Er lief ihr hinterher und holte sie in der Eingangshalle ein. Sie stand da, den Kopf leicht in den Nacken gelegt, ihre Nasenflügel zuckten vor Anspannung, während sie versuchte, ihre durch Alkohol und inneren Aufruhr getrübten Sinne zu sammeln.
»Wenn Sie einen Deutschen suchen, sind Sie hier ja an der richtigen Adresse.«
Nora machte sich nicht die Mühe, ihm zu widersprechen. Niemand konnte ihr bei dieser Suche helfen. Die Primo-Capraro-Schule war während des Kriegs geschlossen worden, so viel wusste sie. Und vor zwei Jahren von der deutschen Gemeinde von Bariloche wieder eröffnet worden. Nora spazierte die Flure entlang und inspizierte die Fotos an den Wänden, sie waren neu, die Bilder der Vergangenheit waren sorgfältig ausgetauscht worden. Weit und breit kein Hakenkreuz auf flatternden Fahnen, keine nationalsozialistischen Insignien, kein Hitlergruß. Viele vergleichbare Institutionen auf der ganzen Welt verfuhren so. Trotzdem
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