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Wakolda (German Edition)

Wakolda (German Edition)

Titel: Wakolda (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucia Puenzo
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diese Art erregte. Ohne zu überlegen, stimmte er wieder in das Pfeifen des Mädchens ein, fügte eine zweite Melodie hinzu, die sich mit der von Lilith verflocht und sie schließlich erstickte.
    Musik erklingt an den undenkbarsten Orten
, ging es ihm durch den Kopf.
    »Lilith! Wir fahren jetzt!«
    Der Ruf des Bruders unterbrach alles, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Hätte er eine Waffe bei sich gehabt, er hätte ihn auf der Stelle erschossen.
    »Lilith!«
    Er pfiff weiter, bis der Junge vor ihnen stand und seine Schwester fortzerren wollte; da er aber mehrere Einkaufstüten trug, hatte er keine Hand frei, um seine Absicht in die Tat umzusetzen. Es folgte der zauberhafteste Moment: Lilith fiel in den letzten Schnörkel seiner Melodie ein und verfing sich am Ende in einem lang gehaltenen Ton wie ein durstiger Kolibri. Sie vollführte einen Knicks, indem sie den linken Fuß hinter den rechten setzte und mit der Spitze auf den Asphalt auftippte, dann verneigte sie sich und ließ auch die Puppe sich vor ihm verbeugen, während sie sich mit Händen und Füßen dagegen sträubte, zum Auto gedrängt zu werden.
    »Sag mal, bist du taub?« Der Bruder versuchte, sie vor sich her zu schubsen. »Hopp, los jetzt.«
    Taub ist sie nicht
, dachte José,
sie hat nur keine Ohren für dich
.
    Als könnte sie die Gedanken des Fremden, der sie in seinen Bann gezogen hatte, hören, besiegelte Lilith mit einem erneuten Lachen ihre Komplizenschaft.
    »Das ist Tomás, mein Gefängniswärter«, erklärte sie und wies auf ihren Bruder.
    »Jetzt geh schon!«
    »Es war mir ein Vergnügen, Lilly. Und ich bin José.«
    Bevor er sich aufrichtete, flüsterte er ihr noch ins Ohr:
    »Ich kann übrigens noch viel besser pfeifen … Eines Tages führ ich’s dir vor.«
    Lilith presste Herlitzka an sich, zog die Schultern hoch und biss sich auf die Lippen, um nicht zu lachen. Das Kitzeln seiner Worte streifte ihr Ohr und fuhr in sie hinein, lief ihr den Hals hinab und weiter hinunter bis zwischen die Beine. Der Bruder gab ihr einen Schubs in Richtung Auto.
    »Nun geh schon!«
    »Sagt mal, fahrt ihr Richtung Süden?«, fragte der Fremde, der keinerlei Eile hatte, sie gehen zu lassen.
    »Ja, nach Bariloche.«
    »Könnte ich mich euch vielleicht anschließen? Es heißt, die Wüstenstraße sei gefährlich, und …«
    »Man nennt sie die Todesstrecke, die
ruta de la muerte
«, fiel ihm der Junge ins Wort und lachte, als sei von einem Abenteuer die Rede und nicht von tödlicher Gefahr. »Dreihundert Kilometer reines Nichts. Fragen Sie meinen Vater.«
    Er lud seiner Schwester ein paar Einkaufstüten auf, packte sie an der Hand und zog sie zum Auto. Jetzt erst begriff José, dass der Mann, den er für einen Tankstellenmitarbeiter gehalten hatte, Liliths Vater war. Ein brachyzephaler
Homo syriacus
. Runder, kurzer Schädel, Judennase, gedrungener, rundlicher Körperbau. Er hatte ein paar Kilo Übergewicht, bei normaler Körpergröße. Eine kahle Mitte zierte den Kopf, ein schweißgetränktes Hemd klebte ihm am Körper. Auf dem Beifahrersitz saß die Mutter, im vierten Monat schwanger, und fächerte sich Luft zu. Sie war ebenso gewöhnlich wie ihr Mann, hatte jedoch eindeutig den langen Schädel eines dolichozephalen
Homo arabicus
. Vollends verblüfft war José jedoch, als er auf dem Rücksitz des Wagens einen fünfjährigen Jungen entdeckte, der mit einer englischen Dogge spielte. Er war so vollkommen wie sein älterer Bruder. Die beiden schienen dem entronnen zu sein, was das Gesetz der Abstammung für sie vorgesehen hatte, zwei Exemplare eines
Homo europaeus
mit hellerer Haut und helleren Augen als ihre Eltern. Dieses Phänomen begegnete ihm nicht zum ersten Mal: Aus der Vermengung des Erbguts zweier mittelmäßiger Individuen konnten durchaus mustergültige Exemplare hervorgehen. Das irritierte ihn, es trotzte seinen Reinheitstheorien. Mehr als zehn Jahre lang hatte er sich damit befasst, eine vollständige und verlässliche menschliche Erblehre vorzulegen und auf das Ausmaß des Schadens hinzuweisen, den ungünstige Erbsubstanzen verursachten.
    »Papa, der Herr hier möchte mit uns fahren.«
    »In meinem eigenen Wagen natürlich«, beeilte sich José zu erklären und zeigte auf den einige Meter entfernt geparkten Chevrolet. »Sozusagen in Kolonne, wenn es Sie nicht stört …«
    Der Vater betrachtete die adrette Erscheinung des Fremden, der sich eben die Hände an den Hosen abwischte. Seit Jahren war er auf dieser Strecke unterwegs, doch noch nie

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