Walburgisöl - Oberbayern-Krimi
verabschiedeten sich nun mit einem Kranz oder einer Blumenschale, vor allem aber mit einer mehr oder weniger langen Ansprache.
Bald taten Morgenstern, der sich an der Friedhofsmauer neben ein prächtiges Familiengrab gelehnt hatte, die Beine weh. CSU und Feuerwehr, Schützengesellschaft und Schreinerinnung, die Jäger und der Heimatverein »Die alten Deutschen«, der VfB Eichstätt und der Männerchor, sie alle »ließen es sich nicht nehmen«, wie es regelmäßig hieß, »unserem lieben Hias die letzte Ehre zu erweisen«, der so tragisch aus dem Leben gerissen worden sei, mitten in seiner liebsten Beschäftigung, der Jägerei.
Blablabla, dachte Morgenstern und verwünschte innerlich seinen Chef, der ihn hierherbeordert hatte. Es war doch völlig naiv zu glauben, ein Tatbeteiligter, wenn er denn überhaupt hier auf dem Ostenfriedhof wäre, würde sich durch irgendeine auffällige Regung verraten.
In seiner Nürnberger Zeit hatte ein Staatsanwalt einmal die Idee gehabt, zwei Mordangeklagte in Handschellen an den Tatort mitten im Wald zu führen und sie hautnah mit dem Schauplatz zu konfrontieren, umringt von Journalisten, Anwälten, Polizisten und Justizbeamten. Das Experiment war auf ganzer Linie gescheitert. Die Angeklagten hatten das Spektakel äußerlich ungerührt absolviert. Der vom Staatsanwalt erhoffte Nervenzusammenbruch mit Tränen, Reue und einem großen Geständnis auf offener Bühne war ausgeblieben – erwartungsgemäß, nach Morgensterns Meinung.
Jetzt begannen auch noch die Gungoldinger Jagdhornbläser zu spielen, Jagdsignale schallten über den Friedhof. Anschließend stellten sich die Trauergäste in einer langen Reihe auf, um Weihwasser ins Grab zu spritzen; manche hatten auch kleine Blumengebinde oder einzelne Nelken dabei, die sie ins Grab warfen.
Die Friedhofsgärtner hatten heute das Geschäft des Monats gemacht, bilanzierte Morgenstern. Zwanzig Minuten defilierten die Teilnehmer der Beerdigung nun schon am Grab vorbei. Morgenstern nahm Blickkontakt mit Peter Hecht auf, der hundert Meter von ihm entfernt fromme Andacht heuchelte, in Wahrheit aber die Menge im Auge behielt. Erfahrung und Menschenkenntnis: Darauf kam es nun an. Verhielt sich hier jemand auffällig?
Morgenstern musste sich eingestehen, dass die einzig auffällige Person auf dem Friedhof er selbst war. Hatte Hecht es immerhin geschafft, von zu Hause eine schwarze Windjacke mitzubringen und somit einigermaßen als Trauergast durchzugehen, hatte er selbst keinerlei Anstrengungen unternommen, seine Kleidung dem Anlass anzupassen. Er besaß kein einziges schwarzes Kleidungsstück und hatte nicht die Absicht, das zu ändern. Adam Schneidts Aufforderung, etwas Schwarzes zu tragen, erfüllte er rein formal durch seine gute alte Ray-Ban-Sonnenbrille, die er sich ins Haar geschoben hatte. Allerdings erschwerte ihm diese Auffassung zweifellos die gewünschte Diskretion. Sollte tatsächlich ein Mitwisser von Schreibers Mord unter den Trauernden sein, dann hatte er die Anwesenheit der Kripo sicher längst bemerkt und würde bestimmt keinen Fehler machen. Außerdem war die halbe Stadt auf dem Friedhof versammelt. Verdächtig waren wohl eher die wenigen, die daheimgeblieben waren, sinnierte Morgenstern.
Inzwischen war die Kondolenzschlange vor dem Grab kürzer geworden; nur einige alte Damen standen noch an. Vermutlich Rentnerinnen, für die der Besuch von Beerdigungen ihr tägliches Freizeitprogramm war und die zu Hause umfangreiche Sterbebildchen-Sammlungen pflegten.
Morgenstern dachte an die alte Maude aus dem morbiden Film »Harold und Maude«, und es dauerte nicht lange, bis er leise die Filmmusik pfiff: Cat Stevens’ »If you wanna sing out, sing out, and if you wanna be free, be free«. Wenn du singen willst, dann sing, und wenn du frei sein willst, dann sei frei.
Peter Hecht hatte sich inzwischen aus dem Schatten eines großen Lindenbaumes gelöst und schlenderte, immer noch mit andächtigem Gesichtsausdruck, Richtung Morgenstern. Am Grab standen nur noch die engsten Verwandten und nahmen die Beileidsbekundungen der Rentnerinnen entgegen. Danach ging es mit Sicherheit zum großen Leichentrunk in die »Krone« am Domplatz, wo der Saal die hungrigen und durstigen Trauergäste nur mit Mühe würde fassen können. Die ersten saßen vermutlich schon beim Bier und erzählten sich lustige Anekdoten, die sie einst mit Matthias Schreiber erlebt hatten.
Hecht hatte Morgenstern inzwischen erreicht und lehnte sich mit verschränkten Armen
Weitere Kostenlose Bücher