Wald-Schrat
senkrechte Wände beschreiten zu können, als wären sie waagerecht. Chlorine musste unter einer allzu lebhaften Fantasie leiden. Ihre Vorstellungen über ihr Aussehen und ihre Persönlichkeit waren das genaue Gegenteil der Wirklichkeit: Sie schrieb ihre Schönheit dem Drachen zu, obwohl sie ganz eindeutig aus sich heraus schön war. Trotzdem, sie und der Drache erwiesen ihm einen Gefallen, also machte er ihre Ideen besser nicht verächtlich. »Das ist schön«, sagte er also nur.
»Du glaubst mir nicht, stimmt’s?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Das brauchst du gar nicht. Aber du glaubst mir nicht.«
»Nimm’s mir nicht übel, aber… nein, so ganz glaube ich dir nicht.«
»Das ist gut. Ich möchte nämlich gar nicht, dass man mir glaubt. Kannst du dir vorstellen, dass Nimby und ich verheiratet sind und in den Flitterwochen einen ganzen Monat auf der anderen Seite des Mondes zugebracht haben?«
»Das finde ich ähnlich schwer zu glauben.«
»Großartig! Ich könnte dir wahrscheinlich alles erzählen, und du würdest mir kein Wort glauben. Also kann ich völlig offen sein.«
»Nun, das würde ich so nicht sagen.«
»Wenn ich dir verraten würde, wer Nimby wirklich ist, würdest du mir erst recht nicht glauben. Deshalb versuche ich es gar nicht.«
Vielleicht war das ganz gut so. Je weiter sie kamen, desto größeren Unsinn erzählte Chlorine.
Als sie fast unten angelangt waren, erschien D. Sideria wieder. »Du vergnügst dich?«, fragte sie mit einem bedeutsamen Blick auf Forrests Hände.
»Ja, das ist eine erstaunliche Erfahrung«, stimmte Forrest ihr zu. »Solch eine Schlucht habe ich noch nie gesehen.«
»Ich meinte eigentlich, wie du dich an Fräulein Brunnenvergifterin festklammerst. Wenn Mann sie sieht, läuft einem wohl das Wasser im Munde zusammen.«
Chlorine sah sie an. »Hast du nicht irgendwo anders etwas Wichtigeres zu tun, Dämonin?«
Sideria grinste anzüglich. »Nein. Ich« - Dann wirkte sie sehr erstaunt. »Um der Wahrheit die Ehre zu geben, doch.« Und damit blendete sie sich aus.
Die großen Füße des Drachen brachten sie rasch voran, und so erreichten sie die Unterkante der Wand. Sie bogen um die Ecke und ritten wieder über ebenen Boden. Als Forrest hochblickte, sah er den Rand der Kluft unfassbar weit über sich, dazu zwei fliegengroße Punkte, bei denen es sich vielleicht um Sean und Gerte handelte.
Dann fiel ihm etwas ein. »Soll es hier nicht einen Spaltendrachen geben, der jeden frisst, den er kriegen kann?«
»Im Augenblick ist er nicht in der Nähe«, entgegnete Chlorine. »Möchtest du ihn kennen lernen?«
»Nein! Ich will ihm aus dem Weg gehen!«
»Er heißt Stanley Dampfer, und er frisst nur Leute, die er nicht kennt. Ich könnte euch bekannt machen.«
»Trotzdem nein, danke. Das möchte ich lieber nicht.«
»Er hat einen ganz putzigen Sohn namens Steven Dampfer. Alle Mädchen lieben das Drachenbaby.«
»Ich bin kein Mädchen.«
Sie lachte wieder. »Na gut, also keine Vorstellung. Aber wenn du ihm je begegnen solltest, sag einfach, dass Nimby dich schickt, dann frisst er dich nicht.«
»Ach – du meinst, Drachen fressen keine Freunde anderer Drachen?«
»So ungefähr. Die geflügelten Ungeheuer sind ganz besonders auf ihre Ehre bedacht. Sie beschützen einander und alle Freunde. Aber nutze das Privileg nicht allzu sehr aus. Schließlich müssen sie von irgendwas leben.«
Von den meisten Leuten, denen sie begegneten, dachte Forrest. »Nein, ich nutze es nicht aus«, versprach er. War das nun eine weitere ihrer Fantasien oder meinte sie es ernst? Er hoffte, dass er niemals Gelegenheit erhielt, diese Frage ein für allemal zu klären.
Sie erreichten die gegenüberliegende Felswand, die nicht allzu weit entfernt lag, denn am Boden war die Spalte viel schmaler als oben. Forrest wusste, dass er, wenn er angestrengt darüber nachdachte, vermutlich zu dem Schluss gelangte, die Wände seien gar nicht senkrecht. Doch das Ergebnis dieses Gedankengangs lohnte die Mühe kaum, deshalb zog er die Schlussfolgerung gar nicht erst.
Der Weg hinauf ähnelte dem Weg hinunter, nur war ›vorn‹ nun der ferne Himmel. Der Drache schien keine Mühe zu haben, die Wand hinauf zu laufen, und Forrest spürte den Griff der Schwerkraft nicht, die eigentlich versuchen sollte, ihn zurückzuhalten; nur die geschmeidige Gestalt Chlorines, die seine Hände um sich geschlossen hielt.
»Du musst hungrig sein«, sagte sie nach einer Weile. »Hier hast du einen Doughnut, ein mächtiges
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