Wald
abstehenden schwarzen Haaren, die Fangzähne gefletscht und an den Pranken die Krallen ausgefahren. Und doch hat er etwas Menschliches an sich.
Envin sitzt im Schnee und zeichnet, als hinge sein Leben davon ab. Er muss seiner Seele Raum verschaffen, muss die Gedanken sortieren und Dampf ablassen. Strich um Strich zieht er auf dem Pergament, ohne nachzudenken.
Sidus streift durch den Wald und sieht sich nach allen Seiten um. Nichts. Niemand. Er sieht sich noch einmal um. Immer noch niemand zu sehen. Er atmet durch. Dann löst er seinen Gürtel und lässt die Hose ein kleines Stück herab. Es ist kalt im Wald, aber an diesem Morgen ist es nicht so schlimm wie an den vergangenen drei. Und der Himmel ist blau, nicht so grau wie bisher. Die Sonnenstrahlen reflektieren im Schnee und kitzeln Sidus' Nasenspitze. Er fängt an seine Blase zu entleeren und verspürt zum ersten Mal seit Tagen wahre Erleichterung. Der weiße Brei zu seinen Füßen schmilzt durch die warme Brühe, und auch die Lasten auf seinen Schultern schmelzen für einen kurzen Moment während der Entleerung. Doch schon kurz darauf sind seine Sorgen wieder spürbar. Wie lange wird er noch die Bürde ertragen können, die er als Anführer zu schleppen hat? Als älterer und stärkerer muss er stets Ruhe bewahren und darf keine Schwächen zeigen. Seit den unruhigen Träumen der letzten Nächte fällt ihm das zunehmend schwerer. Und was sollte diese Vision bedeuten, in der sein Bruder seine Braut küsste?
Das ist doch Unsinn. Reiß dich zusammen. Vergiss den Aberglauben ---
Bevor er die Hose wieder hochzieht, bleibt er noch einen Augenblick einfach so stehen. Frische Luft strömt durch seine Nüstern. Dann geht Sidus zurück zum Lagerplatz.
Envins Skizze ist noch nicht fertig. Sein Bewusstsein hat sich seiner Kontrolle entzogen. Ob es besser wäre sich zu beeilen, damit Sidus ihn nicht beim Malen ertappt – darüber denkt er nicht nach. Die schweren Schritte des Bruders im tiefen Schnee überhört er.
Sidus bleibt hinter Envin stehen und starrt über seine Schulter auf das entstehende Bild. Lange Zeit klebt sein Blick auf der Zeichnung, ohne dass er sich bewegt. Selbst sein Atem stockt ihm, als sich in seinem Gehirn die Striche auf dem Pergament langsam zu Formen und Figuren zusammensetzten. Als seinem Körper die Luft zu lange ausbleibt, erzwingen seine Lungen einen Hustenreiz.
Envin zuckt zusammen, erschrocken und ertappt, während sich Sidus' Husten in ein hemmungsloses Gekicher verwandelt.
»Hahaha!«
Sidus hält sich den Bauch vor Lachen. Envin dreht sich nicht zu ihm um.
»Du lernst einfach nichts dazu Bruder! Ich habe Dir bereits so oft erklärt, dass Du kein Talent hast. Sieh dir doch einmal genau, an was Du da zeichnest. Das ist nichts! Ein Haufen Striche und Punkte, aber was soll das überhaupt bedeuten! Da ist doch nichts dahinter. Sinnlos. Ich bin mir sicher, Du weißt selbst nicht was das sein soll, was Du da gekritzelt hast. Sieh Dir dieses komische Ding im Wald an.«
Sidus beugt sich herunter und reißt Envin das Bild aus der Hand.
»Total misslungen!«
Noch immer wendet Envin sich nicht um. Stattdessen starrt er Löcher in den Schnee vor sich. Seine Hände hat er ineinander verknotet. Während sein restlicher Körper sich nicht bewegt, presst und reibt er Finger an Finger und Knochen an Kochen, bis die Knöchel rot werden.
Sidus dreht hinter Envins Rücken Runden und wedelt mit dem Bild herum.
»Wenn Du mich fragst, Envin, dann ist es Verschwendung, das teure Pergament so zu verunstalten.«
Mit einem plötzlichen Sprung erhebt sich Envin aus der Hocke und greift nach seinem Papier. Sidus reagiert sofort und zieht ihm Envin Pergament mit der einen Hand vor der Nase weg. Mit der anderen greift er ihn an der Schulter und drückt ihn zu Boden. Envin stemmt sich gegen seinen Bruder, doch es hat keinen Sinn. Sidus hat mehr Kraft als er, seine Pranke schleudert ihn weg und er landet unsanft mit dem Gesicht im Schnee. Die kalte Masse beißt ihm in die Augen, bohrt sich in seine Nasenlöcher, zwischen seine Zähne, verhakt sich in seinen Augenbrauen.
Was hat er sich dabei nur gedacht? Weiß er nicht, dass Sidus stärker ist als er? Doch – das weiß er.
Als Envin seinen Kopf langsam erhebt, sieht er wie das Pergament vor ihm zu Boden geworfen wird.
Sidus wendet sich von ihm ab, und spricht mit ausdrucksloser Stimme in den Wald hinein, »meinst Du wirklich Du könntest Llyle mit Deinem Geschmiere beeindrucken?«
Envins Adern
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