Walden Ein Leben mit der Natur
versonnenen Wanderer
gepflückt zu werden. Einst von Kinderhänden in Vorgärten gepflanzt und großgezogen, steht er jetzt an den Mauerresten verlassener Weideplätze und macht neu hervorschießenden Wäldern Platz, der Stammesletzte und einzige Überlebende der Familie. Die kaffeebraunen Kinder hatten kaum daran gedacht, daß der dürre Reis mit nur zwei Äuglein, den sie im Schatten des Hauses in die Erde steckten und täglich wässerten, derartig Wurzeln schlagen würde, sie überleben, ja selbst das Haus, das ihn beschattete, und zu des Menschen Zier- und
Obstgarten gedeihen würde, um ein halbes Jahrhundert,
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nachdem sie aufgewachsen und gestorben waren, dem
einsamen Wanderer leise ihre Geschichte zu erzählen - mit den gleichen hellen Blüten und dem gleichen süßen Duft wie in jenem ersten Frühling. Wie ich seine immerfort zarten,
freundlichen, fröhlichen Fliederfarben schätze!
Warum aber mußte dieses kleine Dorf, das den Keim zu
Größerem in sich trug, untergehen, während Concord seinen Platz behauptete? Besaß die Landschaft hier denn etwa keine natürlichen Vorteile, keine Vorrechte, wie sie das Wasser mit sich bringt? Ja doch, den tiefen Waldensee und die kühle Bristersquelle - Vorrechte auf einen gesunden, tüchtigen Zug, doch alle ungenützt von den hiesigen Einwohnern, die nur ihr
»Gläschen« damit verdünnten. Sie gehörten allesamt einem durstigen Geschlecht an. Hätte denn das Körbe- und
Mattenflechten, das Besenbinden, Maisrösten, Leinenspinnen und auch das Töpferhandwerk hier nicht gedeihen und die Wildnis wie eine Rose zum Blühen bringen können? Konnte eine zahllose Nachkommenschaft nicht das Land ihrer Väter übernehmen? Der unfruchtbare Boden hätte sie wenigstens vor der Degeneration der Tiefebene bewahrt! Ach, wie wenig trägt doch das Andenken dieser Menschen zur Schönheit der
Landschaft bei! Vielleicht aber will die Natur es mit mir als erstem Ansiedler von neuem versuchen und mein Haus, erst im vergangenen Frühjahr erbaut, zum ältesten Haus des Dorfes machen.
Daß je ein Mensch an dem Platz gebaut hätte, den ich
bewohne, ist mir nicht bekannt. Bewahre mich vor einer Stadt, die auf dem Grund einer vergangenen errichtet wird, deren Material Ruinen, deren Gärten Friedhöfe sind! Der Boden ist dort ausgebleicht und verwunschen. Doch bevor so etwas nötig sein wird, wird die Erde selbst in Trümmer gegangen sein. Mit solchen Reminiszenzen bevölkerte ich wieder die Wälder und lullte mich damit selbst in den Schlaf.
Um diese Jahreszeit erhielt ich nur selten Besuch. Wenn tiefer Schnee lag, wagte sich oft eine Woche oder vierzehn Tage lang kein Spaziergänger in die Nähe meines Hauses. Ich aber lebte dort behaglich wie eine Feldmaus, wie das Hausrind oder das
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Federvieh, die, wie es heißt, oft lange im Schnee begraben sind und auch ohne Nahrung am Leben bleiben. Oder wie die
Familie eines der ersten Ansiedler in der Stadt Sutton in Mas sachusetts, dessen Hütte im Jahre 1717 während seiner
Abwesenheit durch starken Schneefall völlig zugedeckt wurde und die ein Indianer nur an dem Loch, das durch die durch den Rauchfang aufsteigende Wärme in den Schnee geschmolzen
hatte, erkannte und die Familie retten konnte. Kein freundlicher Indianer kümmerte sich aber um mich; das war auch nicht nötig, denn der Herr des Hauses war daheim. Schneegestöber!
Wie lustig das klingt! Die Farmer konnten nicht mit ihren Gespannen in die Wälder und ins Moor kommen und waren
gezwungen, die schattenspendenden Bäume wir ihren Häusern zu fällen. Als jedoch die Schneekruste härter war, fällten sie die Bäume im Moor - zehn Fuß über dem Erdboden, wie sich im nächsten Frühjahr herausstellte.
Bei tiefem Schnee hätte man den eine halbe Meile langen Weg von der Landstraße bis an mein Haus durch eine gewundene, schwarz getupfte Linie wiedergeben können, mit langen
Zwischenräumen zwischen den einzelnen Tupfen. Denn eine Woche hindurch machte ich bei anhaltend schlechtem Wetter immer die gleiche Anzahl gleich langer Schritte, traf auf dem Hin- und Rückweg bewußt und mit der Genauigkeit eines
Zirkels in meine eigenen tiefen Fußstapfen (zu solchen
Praktiken müssen wir im Winter unsere Zuflucht nehmen), die oft erfüllt waren vom Blau des Himmels. Kein Wetter war jedoch schlecht genug, um mich von meinen Spaziergängen oder
besser gesagt Streifzügen abzuhalten, denn ich marschierte oft acht bis zehn Meilen weit durch tiefen Schnee, bloß um
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