Walden Ein Leben mit der Natur
sanfte, gleichsam natürliche Melodie, die der Wildnis würdig war. Auf seinem Weg durch die Wäl der ging das Geläut in ein vibrierendes Summen über, als seien die Fichtennadeln am Rande des Horizonts die Saiten einer Harfe, über die es strich. Jeder Laut, auf große Entfernung gehört, schafft die gleiche Wirkung, ein Vibrieren der Lyra des Alls, so wie die dazwischenliegende Atmosphäre einem entfernten Höhenzug einen bläulichen Farbton verleiht, der ihn für unser Auge anziehend macht. In diesem Fall trug mir die Luft eine Melodie zu, die mit jedem Blatt, mit jeder Nadel des Waldes
Zwiesprache gepflogen hatte, die von der Atmosphäre
aufgenommen, moduliert und wie ein Echo von einem Tal zum anderen getragen wurde. Das Echo ist bis zu einem gewissen Grad ein Urton, darin liegt sein Zauber, sein Reiz. Es ist nicht nur eine Wiederholung dessen, was vom Glockenklang der
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Wiederholung wert war, sondern zum Teil die Stimme des
Waldes selbst - die gleichen belanglosen Worte und Klänge, nur von einer Waldnymphe gesungen.
Abends klang von jenseits der Wälder lieblich und melodisch das ferne Muhen einer Kuh herüber, das ich anfangs mit den Stimmen jugendlicher Sänger verwechselte, die zeitweise Hügel und Täler durchstreiften und mir dabei ein Ständchen brachten. Doch war ich nicht unangenehm überrascht, wenn sich dieser Gesang schließlich als das einfache, natürliche Muhen einer Kuh zu erkennen gab. Wenn ich die
Verwandtschaf t des jugendlichen Gesanges mit dem Muhen einer Kuh feststelle, so liegt darin keine Ironie, vielmehr meine Anerkennung für den Sänger, denn letzten Endes waren ja beide Naturlaute!
Regelmäßig um halb acht, wenn der Abendzug vorüber war, sangen im Sommer die Nachtschwalben eine halbe Stunde
lang auf einem Baumstumpf neben meiner Tür oder auf dem Dachfirst ihren Abendgesang. Sie begannen ihr Lied pünktlich wie eine Uhr, allabendlich fünf Minuten nach dem
Sonnenuntergang. Ich hatte die seltene Gelegenheit, mit ihren Gewohnheiten bekannt zu werden. Mitunter hörte ich vier oder fünf von ihnen gleichzeitig an verschiedenen Stellen des Waldes singen. Sie setzten zufällig hintereinander je einen Ton später ein und waren so nahe, daß ich nicht nur das Glucksen nach jedem Ton, sondern oft auch ein eigenartiges Summen vernehmen konnte, das einer im Spinnennetz gefangenen
Fliege ähnelte, nur entsprechend lauter war. Gelegentlich umkreiste mich eine im Wald, immer ein paar Schritte entfernt, als ob sie durch einen Faden mit mir verbunden wäre,
wahrscheinlich weil ich mich in der Nähe ihrer Eier befand.
Diese Vögel sangen mit kurzen Unterbrechungen die ganze Nacht hindurch, und doch war ihr Gesang vor oder bei
Tagesanbruch ebenso melodisch wie zuvor.
Wenn alle anderen Vögel schweigen, nimmt die Schleiereule ihr uraltes, dem Gesang von Klageweibern verwandtes U-huu-u-huu. auf. Ihr unheilvoller Schrei erinnert wahrhaft an Ben Jonson. Diese weisen Mitternachtshexen! Ihr Kreischen hat
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nichts mit dem biederen, schlichten Twit-twit und Tu-tu der Poeten zu tun, sondern ist - ohne zu spotten - ein tief trauriges Kirchhofslied, die gegenseitige Tröstung Liebender, die den Freitod suchten und sich in den Gefilden der Unterwelt der Qualen und Wonnen ihrer oberweltlichen Liebe erinnern.
Dennoch höre ich diese Klagen, diese schmerzvollen
Antworten, die den Waldrand entlangschweben, gern. Sie
erinnern mich manchmal an Musik und Vogelgesang, als wären sie die düstere, schwermütige Seite der Musik, Seufzer und Tränen, die gern im Lied Ausdruck fänden. Sie sind die Geister, die finsteren Geister und bösen Ahnungen gefallener Seelen, die einst in Menschengestalt auf der Erde wandelten, um ihre dunklen Taten zu verüben, und nun am Schauplatz ihrer
Übertretungen mit jammernden Gesängen und Klageliedern
ihre Sünden verbüßen. Sie eröffnen mir einen neuen Sinn für die Vielfalt und die Fähigkeiten der Natur, in der wir wohnen.
Oh-o-o-o, wäre ich doch nie gebo-o-o-ren! klagt es auf der einen Seite des Sees und schwingt sich mit der Ruhelosigkeit der Verzweiflung auf den nächsten grauen Eichenast. Wäre ich doch nie gebo-o-o-ren! hallt es von der anderen Seite mit banger Aufrichtigkeit wider, und gebo-o-o-renl klingt es von fern aus den Wäldern von Lincoln.
Auch eine Schreieule brachte mir ihr Ständchen. So aus der Nähe kann man sich kaum einen schwermütigeren Klang in der Natur vorstellen. Als wollte sie mit dieser Stimme in ihrem Chor für
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