Walden Ein Leben mit der Natur
ist dieser See ein kleiner Zwillingsbruder des Waldensees. Die beiden sind einander so ähnlich, daß man meinen könnte, sie seien miteinander unterirdisch verbunden. Sie haben das gleiche steinige Ufer, ihr Wasser hat die gleiche Farbe. Wenn man bei schwülem Hundstagewetter von einer bewaldeten
Anhöhe auf eine seiner Buchten niederblickt, in denen das Wasser nicht so tief ist, um nicht die Farbe des Grundes aufzunehmen, ist er genau wie der Waldensee von milchigem Blau- oder Graugrün. Es ist viele Jahre her, seit ich mir dort fuderweise Sand holte, um Sandpapier daraus zu machen,
doch habe ich ihn seither immer wieder besucht. Wer häufig zu ihm kommt, möchte ihn »Grünsee« nennen. Vielleicht sollte man ihn wegen der folgenden Umstände aber auch
»Gelbkiefersee« taufen. Vor rund fünfzehn Jahren konnte man nämlich weit vom Ufer entfernt die Spitze einer Pechkiefer aus dem tiefen Wasser ragen sehen. Es handelte sich um die Sorte, die man in dieser Gegend Gelbkiefer nennt, wenn es auch keine eigene Gattung ist. Man hat sogar angenommen, daß der
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See durch eine Absenkung des Bodens entstanden war und
der Baum noch aus dem Urwald stammte, der früher hier
wuchs. Ich habe herausgefunden, daß die Erscheinung schon im Jahr 1792 in einer »Topographischen Beschreibung der Gegend von Concord«, der Sammlung der Historischen
Gesellschaft von Massachusetts, erwähnt wird. Nachdem der Autor über den Walden- und den Weißensee spricht, fügt er an:
»In der Mitte des letzteren kann man bei niedrigem
Wasserstand einen Baum sehen, der scheinbar an der Stelle gewachsen ist, wo er jetzt steht, wenn auch fünfzehn Meter unter der Wasseroberfläche; der Wipfel ist abgebrochen, und an der Bruchstelle mißt der Stamm vierzehn Zoll im
Durchmesser.« Im Frühling '49 sprach ich mit dem Mann, der in Sudbury dem See am nächsten wohnt. Er erzählte mir, daß er es gewesen sei, der den Baum vor zehn oder fünfzehn Jahr herauszog. So weit er sich erinnern konnte, stand der Baum zweihundert bis zweihundertfünfzig Fuß vom Ufer entfernt in dreißig bis vierzig Fuß Tiefe. Es war im Winter, und am Vormittag war er beim Eisholen gewesen, als er beschloß, am Nachmittag mit Hilfe seiner Nachbarn die alte gelbe Kiefer herauszuholen. Er sägte eine Rinne bis zum Ufer in das Eis.
Dann begann er, mit einem Ochsengespann den Baum der
Länge nach heraus auf das Eis zu zerren. Doch bevor er mit seiner Arbeit weit gekommen war, stellte er zu seiner
Überraschung fest, daß die Kiefer mit dem falschen Ende nach oben stand: Die Aststrünke zeigten nach unten, und der Wipfel stak fest im sandigen Grund. Am Stumpf hatte sie einen
Durchmesser von ungefähr zehn Zoll, und während er sich ein schönes Stück Langholz erwartet hatte, war sie so faul, daß sie höchstens noch zu Brennholz taugte. Davon hatte er noch einiges in seinem Schuppen. Am Stumpf hatten Axt und
Spechte ihre Spuren hinterlassen. Seiner Meinung nach konnte es sich um einen toten Baum vom Ufer handeln, der schließlich in den See geweht wurde und, nachdem der Wipfel sich mit Wasser vollgesogen hatte, während der Stumpf noch trocken und leicht war, hinausgetrieben und mit dem falschen Ende voraus gesunken war. Sein achtzigjähriger Vater konnte sich keiner Zeit erinnern, als der Baum noch nicht dagewesen wäre.
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Einige schöne Stämme kann man immer noch auf dem Grund
liegen sehen, und wenn die Oberfläche Wellen schlägt, wirken sie wie riesige sich windende Wasserschlangen.
Dieser See ist wohl kaum je von einem Boot entweiht worden, denn er enthält wenig, was einen Fischer reizen könnte. Statt der weißen Lilie, die Schlammboden braucht, oder dem
gewöhnlichen Kalmus wächst die blaue Schwertlilie (Iris versicolor) im klaren Wasser dünn aus dem steinigen Boden rund um den See. Sie wird im Juni von den Kolibris besucht, und die Farbe ihrer bläulichen Blätter und ihrer Blüten, be sonders deren Reflexe, stimmen harmonisch mit dem
blaugrünen Wasser überein.
Der Weißensee und der Waldensee sind lautere Kristalle auf der Oberfläche der Erde, Seen des Lichtes. Wären sie für immer erstarrt und klein genug, dann würden sie vielleicht wie kostbare Steine von den Sklaven davongetragen werden, um die Häupter von Herrschern zu schmücken. Da sie aber flüssig und sehr umfangreich sind und uns und unseren Nachfahren für alle Ewigkeit überlassen wurden, schätzen wir sie gering und laufen dem Diamanten Kohinoor nach. Sie sind zu rein,
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