Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Waldos Lied (German Edition)

Waldos Lied (German Edition)

Titel: Waldos Lied (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Gabriel
Vom Netzwerk:
Warinharius hatte dies damals als einen Scherz abgetan. Doch das war es ganz bestimmt nicht. Warinharius, der hochwürdige Abt des Klosters St. Blasien, hatte eine Todesangst vor diesem Schwert und seinem Fluch gehabt. Seine Angst war so furchtbar, dass er das Geheimnis mit sich ins Grab genommen hatte.
    St. Blasien, die Heimat meiner Kindheit und die Zuflucht meiner Seele, war plötzlich nicht mehr die lichte Stätte, die es so lange für mich gewesen war. Die Abtei war zur Hüterin eines dunklen Geheimnisses geworden.
    Doch die Sonne erhob sich am nächsten Morgen wie gewohnt. Der Wind wehte, und auch die Vögel sangen wie jeden Tag ihr Lied zur Ehre des Allmächtigen. Nur in mir tobte der Aufruhr.
    Äußerlich ließ ich mir freilich nichts anmerken. So gut ich konnte, folgte ich dem Stundenpfad der Gebete, der uns durch den Tag und die Nacht geleitet, und versah meine Aufgaben im Scriptorium. Immer wieder durchsuchte ich dabei heimlich die Regale mit den alten Pergamenten. Ich stöberte nächtelang fieberhaft in allen Ecken, klopfte die Wände des Scriptoriums und danach jeden anderen Raum nach verborgenen Hohlräumen ab. Selbst die Kirche durchsuchte ich von oben bis unten. Ich wirbelte viel Staub auf und wurde mehrmals beinahe bei meiner Suche ertappt. Ich drang sogar wie ein Dieb in die Zelle von Abt Giselbertus ein. Ich fand nichts. Das machte mich fast verrückt. Vor allem, weil ich mit niemandem darüber sprechen konnte. Auch mir machte dieses Geheimnis angst. Doch ich würde es bewahren müssen, wenn mir mein Leben lieb war. Gnade mir Gott, wenn Rudolf von Rheinfelden von diesem Brief erfuhr. Denn ich war jetzt Mitwisser eines schändlichen Mordes geworden.
    Mein Seelenfrieden, den ich mir so schwer erkämpft hatte, war für immer dahin. Seit jenem Tag, an dem ich die Geschichte des Schwertes las, zog mich diese Waffe auf eine unheimliche und beängstigende Weise in ihren Bann. Es verging kein Tag, keine Stunde, in der das Schwert nicht sprungbereit in meinem Denken auf mich lauerte, selbst wenn ich es schon fast vergessen glaubte. Immer und immer wieder grübelte ich darüber nach, wie das Zeichen wohl aussah, an dem die Waffe zu erkennen war. Und wohin sie verschwunden sein mochte. Mehr als einmal war ich nahe daran, alles hinter mir zu lassen, um der Spur der Waffe und des Normannen zu folgen. Das Schwert und der Mann hatten meine Eltern getötet. Ich war davon überzeugt, dass sie noch zusammen waren. Ich musste um jeden Preis dieses Schwert finden. Und ich musste einen Weg finden, um den Fluch zu lösen, der auf ihm lag, und es dann dem Allmächtigen zurückgeben. Nur er konnte den Knoten des Unheils entwirren, den dunkle Mächte um diese Waffe geknüpft hatten. Und dafür wusste ich nur einen Ort: Am Fuß des Kreuzes der Basilika in St. Blasien, im Schatten des leidenden Erlösers, waren das Schwert und die heiligen Splitter in Sicherheit.
    Ich betete außerdem inbrünstig darum, dass Gott mir bei dieser Suche auch Erkenntnisse über meine eigene Herkunft gewähren möge. Noch nie hatte ich so stark empfunden, dass ich den Baum nicht kannte, von dem ich abstammte. Ich war nichts als ein loses Blatt im Sturm des Schicksals. Ein Mann ohne Stamm, ohne Wurzeln, ohne Familie, ohne Herkunft.
    Die Parzen spannen jedoch andere Fäden als jene, die ich mir wünschte. Das Schicksal hielt andere Aufgaben für mich bereit. Und dabei lernte ich auch am Ende, meine Aufgabe zu erfüllen, ohne dem unheimlichen, dunklen Sog des Schwertes zu erliegen.
    Die nächste Aufgabe, die vor mir lag, war es, Graf Werner zur Flucht zu verhelfen. Mit der Zeit war ein Plan in mir gereift. Abt Giselbertus würde seine Hand nicht für eine Täuschung reichen, das hatte er mir deutlich gesagt. Es blieb also nur meine Hand, und die war nicht so wichtig. Es war nur die Hand eines Zwerges. So stahl ich mich also eines Nachts aus dem Kloster. Wieder einmal führte mich mein Weg zur Burg. Ungesehen schwamm ich durch den Rhein, ungesehen erreichte ich das Verlies, in dem Graf Werner gefangengehalten wurde. Ungesehen ließ ich mich an einem Seil dort hinunter. Und niemand hörte mich, als ich ihm meinen Plan erklärte.
    Abt Giselbertus schaute mich durchdringend an, als ich zurückkehrte. Er fragte mich nicht, wo ich gewesen war. Nur ein einziges Mal kam er auf diese Angelegenheit zurück. Nach dem Abendmahl der Mönche winkte er mich zu sich und zog zwei zusammengefaltete, versiegelte Pergamente aus dem Ärmel seiner Kutte. »Der Tag der

Weitere Kostenlose Bücher