Waldos Lied (German Edition)
nicht erstaunt und verärgert über meine Gedanken bezüglich des Glaubens und der Rolle der Kirche in dieser Welt? «
Giselbertus schüttelte den Kopf. »Nein. Du wirst unseren Herrn sehr verändert finden. Doch wie gesagt, mehr davon morgen.« Mit einer Handbewegung, die keinen Widerspruch duldete, entließ er mich.
Ich schlief nicht viel in dieser Nacht. Die Worte von Giselbertus und der vorangegangene Abend hatten mir einiges zu denken gegeben. Vor allem aber beschäftigte mich eine Nachricht: Herzogin Adelheid kehrte zurück. Vom Papst selbst reingewaschen von allen Vorwürfen und damit in Sicherheit.
Am nächsten Morgen hielt es mich nicht lange in der Gemeinschaft der Mönche. Nach dem Frühgebet machte ich mich zu einem Ort in der Nähe des Klosters auf, den ich seit meiner Kindheit kannte. Abt Giselbertus achtete zwar streng auf die Einhaltung der täglichen Stunden an Arbeit und des Gebetes, doch für den Leiter des Scriptoriums machte er manchmal eine Ausnahme. »Mir ist bewußt, wie sehr du die Einsamkeit brauchst, um mit Gott sprechen und den richtigen Weg für deine Gedanken finden zu können, Bruder Waldo«, hatte er einmal zu mir gesagt. »Es ist auch zum Guten des Klosters, wenn ich dich hin und wieder ziehen lasse. Denn jedesmal kommst du mit Einfällen zurück, die der Gemeinschaft von Nutzen sind. Und du erfährst dazu noch ein wenig mehr über dich selbst. Doch übertreibe diese Ausflüge nicht. Ich möchte vermeiden, dass es darüber zu Neid und Unruhe unter den Brüdern kommt. « Von diesem Tag an hatten wir eine Art geheimer Übereinkunft. Er übersah es, wenn ich wieder einmal verschwunden war. Ich machte dafür solche Ausflüge nicht allzuoft. Ich war ihm sehr dankbar für diese Großzügigkeit.
An diesem Morgen drängte es mich wieder, meinen Gedanken den Raum zu geben, den sie in der Gemeinschaft und angesichts meiner täglichen Pflicht nicht hatten. Es war nicht weit bis zu meinem geheimen Ort. Für einen anderen als mich hätte dieser Platz wohl nichts Besonderes gehabt. Er lag etwas versteckt, abseits der Wege der Konversen und Hintersassen, mitten in einer Lichtung, umgeben von den Tannen des Waldes. Dort ragte ein großer Felsen auf, wohl doppelt so hoch wie ich, ganz mit Moos bewachsen und einigen Pflanzen und Kräutern, die sich in seinen Spalten eingenistet hatten. Auf der oberen Hälfte des Felsens wuchs eine kleine, verkrüppelte Buche. Sie fand dort nicht viel Nahrung und war deshalb auch nach Jahren immer noch klein.
Ich fühlte mich diesem verkrüppelten kleinen Baum aufs tiefste verwandt. Viele Male war er der Tröster eines verwachsenen Knaben gewesen, hatte ihm zugehört, wenn er von seinem Herzeleid sprach. Ich wünschte mir sehr, einmal im Schatten dieses Felsens begraben zu werden, denn wenn es eine Heimat für mich Heimatlosen gab, dann war es dieser Ort.
Ich begrüßte meine grüne Freundin mit einem kurzen Gebet, wie jedesmal, wenn ich herkam. Dann setzte ich mich mit einem tiefen Gefühl der Zufriedenheit auf das moosige Gras, das am Fuße des Felsens eine weiche Matte bildete, und ließ meinen Gedanken freien Lauf.
Schwere Tritte im Unterholz schreckten mich jedoch schon kurz danach wieder auf. Ich hörte eine Stimme, die ich an diesem Ort lieber nicht gehört hätte. »Hier bist du also, Waldo. Ich hoffe, du verzeihst, dass ich dich in deiner Einsamkeit störe. Doch ich muß einiges mit dir bereden. Abt Giselbertus beschrieb mir den Weg hierher.«
Mir war neu, dass der Abt von St. Blasien meine Zuflucht kannte. Er hatte nie darüber gesprochen. Es musste wirklich wichtig sein, wenn er Rudolf von Rheinfelden den Weg hierher gezeigt hatte. Dennoch hatte dieser Ort mit seinem Erscheinen etwas von Vertrautheit verloren. Mir war, als hätte er ihn mir gestohlen.
Trotzdem machte ich eine einladende Handbewegung. Ich musterte ihn verstohlen von der Seite. Etwas schien ihn sehr zu bewegen. Er hatte sich zwar zwanglos neben mich an den Felsen gelehnt, doch das leichte Zucken seiner Hände und seine ernste Miene verrieten ihn.
Es fiel ihm wohl schwer, den richtigen Anfang zu finden. »Ich verstehe, warum du hier bist, Waldo«, meinte er schließlich.
Ich schaute ihn überrascht an. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Dieser herrische Mann, der rücksichtslos seinen Machtgelüsten und Begierden folgte, zeigte sich plötzlich von einer mir völlig unbekannten Seite. Dann herrschte für einige Zeit Stille zwischen uns. Der Frieden des Ortes schien ihn zu
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