Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Waldstadt

Waldstadt

Titel: Waldstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Leix
Vom Netzwerk:
landen. Dann wäre das Überstülpen der Schlinge sehr schwierig und erst recht das Rückwärtsziehen. Keinesfalls wollte er ihm in die Augen sehen.
    Er setzte eine khakifarbene Baseballmütze auf und zog sich den langen Schirm tief ins Gesicht. Als Sonnenbrille hatte er bewusst ein Modell mit breiten Kunststoffbügeln und ziemlich großen, sehr dunklen Gläsern ausgesucht. Das musste als Tarnung genügen. Außerdem war in der letzten halben Stunde niemand den Pfad entlanggekommen.
    Er setzte sich quer auf den warmen Stein, um beide Richtungen problemlos im Auge behalten zu können. Eine leichte Kopfdrehung genügte und er konnte 30 Meter nach links und fast 50 Meter nach rechts sehen.
    Zum hundertsten Mal überlegte er, ob er das Risiko noch minimieren könnte. Mehrere Sekunden lang, direkt bei der Ausführung würde er ungeschützt sein. Wer genau in diesem Moment um eine der schmalen Biegungen käme, der müsste alles sehen. Und sofort verstehen, was sich da abspielte!
    Er versuchte zu verdrängen. Vergeblich, der Gedanke blieb, er musste sich mit ihm abgeben. Ein Restrisiko würde immer bleiben, bisher hatte ihm nur die Dunkelheit noch geholfen. Aber sollte er sich deshalb auf die leichten, die einfachen Strangulationen beschränken?
    Nein, diese Erfahrungen hatte er schon gemacht und er wollte nicht stehen bleiben, sondern darauf aufbauen. Weiter, schwieriger, risikoreicher. Wie ein Kletterer, dem es nicht reicht, den Berg auf der einfachen Route bezwungen zu haben. Bei jedem Mal ein wenig mehr. Es reizte ihn.
    Er zuckte zusammen. Stimmen, links, zwei knallrote Mützen leuchteten immer mal wieder durch das Geäst der Latschenkiefern. Jetzt kamen sie um die Biegung. Zwei Frauen, sie gingen hintereinander, vielleicht 60, ohne Rucksäcke, bestimmt Tagestouristinnen, sie schnatterten lautstark miteinander. Schwäbisch, wie es in Böblingen oder Stuttgart gesprochen wurde. Er kannte die feinen Unterschiede im Dialekt.
    Sie näherten sich, er machte Platz und drehte sich auf seinem Stein zur Seite, suchte im Rucksack herum.
    »Grüß Gott!« Freundlich grüßte er zurück, dann waren sie vorüber. Sie hatten ihn kaum wahrgenommen, so vertieft in ihrer Unterhaltung. Empörend, wenn sich der Ehemann nach neunundzwanzig Jahren eine Jüngere sucht.
    Das Thema interessierte ihn nicht.
    Eine weitere Stunde wartete er, halb entspannt, halb nervös. Niemand kam vorbei. Alle bleiben auf den markierten Wegen, wie sie sollen, dachte er und zwang sich weiter zu Disziplin. Der Stein wurde mit der Zeit recht hart. Ab und zu ging er drei Schritte nach links, pflückte dort ein paar dicke Heidelbeeren, dann zurück, drei nach rechts. Falls jemand kam, musste er schnell wieder sitzen.
    Im Augenwinkel erhaschte er eine Bewegung. Dunkel, nein, kein Mensch, ein Vogel. Wie eine kleine Krähe, braun, mit vielen hellen Sprenkeln. Er erkannte ihn. Ein Tannenhäher, der nur hier oben in den dichten wilden Nadelwäldern vorkam. Keine Flachlandart. Samen und Nüsschen fraß er gern, drunten im Bannwald am Wildsee bestimmt auch Insekten aus den abgestorbenen Baumriesen.
    Er war schon oft den steilen Fußweg zum See hinuntergestiegen und kannte die toten Fichten ganz genau.
    Sie stehen da, unbeweglich, ohne Haut. Nackt und silbergrau glänzend schimmern sie in der Sonne. Erst verlieren sie ihre Äste und dann, viele Jahre später, brechen sie nach und nach in sich zusammen.
    Denen hatte der Borkenkäfer den Garaus gemacht. Gefräßige Horden kleiner brauner Käferchen, die sich unter der Fichtenrinde fröhlich vermehrten und dabei die Lebensadern im Baum unterbrachen. Strangulierte Fichten sozusagen, die Natur legte ihnen die Schlinge um.
    Er wollte es der Natur gleich tun. Ein völlig normaler Vorgang, überall, immer wieder, in einem fort. Es hatte ihn schon während seines Studiums fasziniert.
    Heiser krächzend flog der Tannenhäher auf. Fast zu lange war er auf den Vogel fixiert gewesen. Er bemerkte das Olivgrün erst, als der Mann bereits auf 20 Meter heran war.
    Dennoch entschied er sich: Jetzt! Zwei schnelle Blicke nach links und rechts, er drehte sich zur Seite und suchte intensiv im Rucksack. Fuhr in die Handschuhe, seine Hände fassten die Hölzchen.
    Der Wanderer ging grußlos vorbei, zwei lange Sätze, er war hinter ihm, warf die Drahtschlinge über den Kopf.
    Ruckartig und blitzschnell zog er zu, kein Ton, nur ein kurzes Gurgeln. Rückwärts zwischen die Latschen, er schleifte sein Opfer bestimmt 30 Meter über Bocksergras und

Weitere Kostenlose Bücher