Waldstadt
ein Frankreich-Nostalgiker? Hier, Paul, lies mal, wie die südfranzösische Mafia in den zwanziger Jahren die Garotte eingesetzt hat.«
»Kann ich mir grad vorstellen«, antwortete Wellmann. »Vornehmer Anzug, Kreidestreifen, Stresemann, Handschuhe aus dünnem Wildleder, die Schlinge in der Sakkotasche – da reicht doch ein dunkler Hausflur, um das Opfer abzupassen.«
»Exakt, genau so ist es hier beschrieben. Eine richtige Gentlemanmethode, kein Knall, kein spritzendes Blut, nur ein energischer Ruck an der Schlinge, kurzes Röcheln und Ende!«
»Kraft brauchst du aber dazu. Das hätte schön zu diesem Fitnessmenschen gepasst. Schade!«
»Mich beunruhigt«, sagte Oskar Lindt und stopfte trotz der Bullenhitze die vierte Pfeife dieses Tages, »mich beunruhigt, dass wir keinerlei Motiv ableiten können. Wenn der wirklich wahllos mordet, dann ist es nur eine Frage der Zeit, wann wir an der nächsten Leiche stehen.«
Wellmann zeigte auf seinen Monitor: »Eschenberg scheint auch so was zu vermuten. Hier in diesem Bericht schreibt er schon ganz offen, dass wir es wahrscheinlich mit einem Psychopathen zu tun haben.«
»Schade, dass Jan im Urlaub ist«, bedauerte Lindt. »Der hätte uns schon mindestens zehn Mal mit irgendwelchen Hirngespinsten genervt, wie wir dem Verrückten eine Falle stellen könnten.«
»Stimmt, Oskar, doch je mehr ich über alles nachdenke, umso weniger glaube ich, dass sein Verhalten kalkulierbar ist.«
»Nicht berechenbar«, nickte Lindt. »Aber es ist halt einfach nicht möglich, hinter jeder krummen Kiefer im Hardtwald einen Polizisten zu verstecken.«
»Die Kamera in der Eiche hat ja auch noch nichts gebracht. Obwohl …«, Wellmann wedelte mit einer Akte, um die Rauchwolke seines Kollegen in den Luftstrom der Ventilatoren zu treiben, » … vielleicht hatten wir ihn auch schon hier auf unserem Monitor. Nur wissen wir leider nicht, nach wem wir suchen müssen.«
»Ein kräftiger Mann, Paul, also einer wie du und ich!« Beide lachten schallend. »Ich glaube, der spielt mit uns. Der will es uns zeigen.«
»Pervers ist er meiner Meinung nach nicht«, unterbrach Claus Eschenberg die Kollegen. Lindts letzten Satz hatte er beim Eintreten noch gehört.
»Nicht?«, antworteten die beiden Kommissare wie aus einem Mund. »Das sehen wir aber ganz anders, der ist doch total gestört!«
Wellmann wollte seinem Ärger noch weiter Luft machen, doch der Psychologe beschwichtigte: »Natürlich ist dieser Täter krank und zwar außerordentlich, aber der Tod reicht ihm. Es gibt ja dort in diesen Akten jede Menge Fälle, wo die Ermordeten noch zusätzlich grausam verstümmelt wurden. Abgetrennte Körperteile, aufgeschlitzte Bäuche, herausgeschnittene Herzen oder sexuelle Handlungen – das alles fehlt hier. Der Tod ist ihm anscheinend genug.«
Paul Wellmann klopfte auf den Aktenstapel: »Nichts Vergleichbares dabei, leider.«
Niemand vermisste ihn, den olivgrün gekleideten Wanderer, der mit offenem Mund und starren, weit hervorgetretenen Augen auf dem Rücken in der stehenden Hitze des undurchdringlichen Latschenkiefernfelds lag.
Insektenschwärme machten sich über ihn her. Stechmücken versuchten, noch etwas von seinem Blut abzuzapfen. Verschiedenste Arten von Fliegenmaden ließen es sich bald in allen feuchten Körperöffnungen gut gehen.
Große rote Waldameisen begannen schon nach wenigen Stunden, zu Tausenden auf seinem Körper herumzukrabbeln. Am Hals, wo sich der Draht leicht in die Haut geschnitten hatte, fingen sie an, ihn zu zerlegen, um die Larven im nahegelegenen Ameisenhaufen mit dem unerwarteten eiweißreichen Aas zu füttern.
Ein Kolkrabenpaar erledigte die Grobarbeit. Diese Wotansvögel hackten mit ihren massiven Schnäbeln die Augen heraus, um dann die dünne Knochenwand dahinter zu durchbrechen und an die weiche Gehirnmasse zu gelangen.
Als der menschliche Geruch nach einigen kräftigen Gewittern nicht mehr so stark war, trauten sich nachts auch die Füchse heran und nagten an der unverhofften Beute herum. Ein verendetes Reh wäre natürlich schneller aufgeräumt worden, aber grundsätzlich unterschied sich der Zerlegungsprozess bei einem toten Wanderer nicht von allem anderen Vergehen im biologischen Kreislauf der Natur.
Vor zwei Jahren hatte er sich eine Eigentumswohnung im Freudenstädter Stadtteil Kniebis gekauft, um im herben Reizklima auf gut 900 Metern Meereshöhe den Ruhestand zu verbringen. Von seiner Frau schon vor 15 Jahren geschieden und mit der einzigen
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