Waldstadt
hätte.
Einige Versetzungsgesuche hatte er schon gestellt, aber bisher ohne Erfolg. Eine kranke Mutter zählte für die Schulverwaltung wohl nicht so schwer wie der Grundsatz, einen Stellenwechsel frühestens nach fünf Jahren zuzulassen, vor allem, wenn es die erste Stelle eines Junglehrers war.
»Was treibt dich denn um?« Sie merkte es trotz ihres Dämmers und obwohl er mit gewohnter Routine die Apfelpfannkuchen backte. »Hast du Ärger in der Schule?«
Er schüttelte den Kopf. »Mach dir keine Sorgen, bitte.«
»Meinetwegen musst du nicht hierher ziehen. Ich komme schon zurecht.«
Das sagte sie fast täglich, aber er sah überdeutlich, dass selbst ihr kleiner Haushalt sie völlig überforderte.
»Nächstes Jahr noch, dann habe ich schon vier dort unten in Karlsruhe. Sie müssen mich einfach gehen lassen.«
So tröstete er sie und vor allem sich jedes Mal. Zum Ende der Ferien wurde es immer schlimmer, aber sein Pflichtbewusstsein siegte. Er beschränkte sich auf Tagesausflüge und suchte nicht die Flucht in einer langen Reise.
Nach dem Abendessen setzte er sich wieder aufs Rad. Nur noch eine kleine Runde, bis um zehn blieb es auf jeden Fall hell. Ohne sich genau zu überlegen, wo er hinwollte, steuerte er den Kienberg an. Er ließ die letzten Häuser hinter sich und strampelte hoch bis zum Friedrichsturm. Vorbei an den unzähligen Rosen, die entlang des Weges gepflanzt waren, erreichte er die Höhe und fuhr geradeaus weiter in den Freudenstädter Parkwald. Ein älteres Kurgastpaar auf Abendspaziergang, er überholte sie, las irgendwo Palmenwald, bog in einen schmaleren Seitenweg ein, begegnete einer Joggerin mit Hund, bog wieder ab und kam an zwei weiteren Läufern vorbei.
Beim Lauferbrunnen suchte er den Salzleckerweg Richtung Kniebis, dann trat er mächtig in die Pedale, gab volle Leistung. Er wollte sich richtig auspowern, vielleicht konnte er so seine Gedanken etwas in den Griff bekommen.
Auf einer langen geraden Bergaufstrecke sah er vor sich einen anderen Mountainbiker. Er fuhr in dieselbe Richtung, aber deutlich langsamer. Kein Wunder, denn der vor ihm war ziemlich korpulent. Die breiten Pobacken ragten seitlich weit über den schmalen Sattel hinaus und aus der kurzen, eng anliegenden Radlerhose quollen massige Oberschenkel, bleich, voller Sommersprossen und haarig die Beine. Sein Japsen und Schnaufen konnte er schon hören, als er noch gute 40 Meter hinter ihm war.
Was dann kam, lief nahezu automatisch ab. Mit einer Hand öffnete er den Druckknopf und tastete in die Beintasche seiner Outdoor-Shorts. Ja, er hatte sein Handwerkszeug dabei, fühlte das rund zusammengeschlungene Metall.
Mühelos holte er den nassgeschwitzten Radler ein, fuhr ganz dicht neben ihn und als er auf gleicher Höhe war, gab er dem Dicken einen mächtigen Stoß.
Ein Schrei, dann der Flug! ›Platsch‹ in den tiefen Graben neben dem Weg.
Blitzartig stoppte er, ließ sein Rad fallen, griff in die Hosentasche, fasste mit den Radhandschuhen die beiden Hölzchen. Der andere lag bäuchlings, wie ein Sack, schräg, die Beine unten im Wasser, sein Gesicht am Rand des Grabens gegen einen kantigen Sandstein geschlagen. Blut sickerte nach der Seite. Nur ein leises Stöhnen war zu hören.
Mit drei Sätzen war er vor dem Kopf, schob die Schlinge über die verschwitzten gelblich-roten Haare, fasste seitlich, drückte mit beiden Händen den Draht zwischen Stein und Gesicht durch, sah die helle Haut des fleischigen Nackens vor sich.
Mit aller Kraft seiner trainierten Armmuskeln zog er zu. Der Körper unter ihm bäumte sich auf, eine Hand griff nach seinem Schuh, doch er konnte ausweichen, trat darauf, drückte die wurstförmigen Finger in den weichen Boden. Die fleischigen Waden strampelten – vergeblich. Zwei Minuten kämpfte er, zuletzt ein Röcheln, dann wurde er schlaff.
Er versuchte, den Dicken aus dem Graben zu ziehen. Vergeblich, bestimmt 120 Kilo, schätzte er.
Er ließ es sein. Das Risiko war zu groß. Wenn jemand um die Wegbiegung käme, wäre er entdeckt.
Schnell entfernte er die Schlinge vom Hals, stopfte sie unaufgerollt in die Tasche und schwang sich wieder aufs Rad.
So schnell er konnte, fuhr er weiter, bog an der nächsten Möglichkeit talwärts ab und nahm den Weg entlang des Forbachs für die Rückfahrt.
Kurz vor dem Waldschwimmbad am Langenwaldsee stieg er ab. Er musste sich erst besinnen und tief durchatmen. Eine Viertelstunde war er geflüchtet, abgehauen mit seiner ganzen Kraft. Wo war das Hochgefühl, das
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