Waldstadt
Tasche geborgen.
Sorgfältig schloss er sie im Lehrerzimmer in seinen Schrank.
»Glatter Reinfall, Lindt«, herrschte ihn die bissige Oberstaatsanwältin Lea Frey an. Nachdem die Bereitschaftspolizisten in drei Nächten lediglich ein paar Kleinkriminelle zur Strecke gebracht hatten und die BNN nach vier Ausgaben der Fortsetzungsstory den Platz auf der ersten Lokalseite dringend für einen Korruptionsskandal im Straßenbauamt brauchten, mussten die Ermittler sich den Fehlschlag ihrer Aktion eingestehen.
»Soll ich Ihnen mal vorrechnen, was das alles gekostet hat?«, giftete die Juristin. »Ich habe von Anfang an nichts von dieser Schnapsidee gehalten, gar nichts, überhaupt nichts! Wenn durchsickert, dass die ganze Geschichte nur erfunden war, sind wir geliefert. Die Medien werden uns in der Luft zerreißen.«
Der SoKo-Chef zuckte nur müde die Schultern. »Vielleicht haben wir ja ein weiteres Verbrechen verhindert.«
»Auf der Schwäbischen Alb werden noch Polizisten für den Streifendienst gesucht«, drohte sie und verließ wutschnaubend das Kommissariat.
Lindt wartete, bis der Knall der zuschlagenden Tür verklungen war, zündete in aller Ruhe seine Pfeife wieder an und verkündete: »Er wird weitermachen, ganz sicher. Er muss einfach, davon bin ich fest überzeugt.«
»Und wir müssen es verhindern, Oskar. Aber wie?« Paul Wellmann war genauso ratlos wie sein Kollege.
»Einen Versuch war es jedenfalls wert, Chef«, meinte Jan Sternberg, wenngleich ihm im Innersten eigentlich High-Tech-Methoden vorschwebten. »Wie wäre es denn mit Nachtsichtbrillen?«
»Jan, wer soll die denn aufsetzen? Die BePo zieht ab, wir haben nur noch unsere SoKo-Mannschaft und weiteres Geld gibt es auch nicht mehr, das hast du doch gerade eben laut genug gehört.«
»Dann müssen wir also wieder auf unseren guten alten Kollegen Zufall hoffen? Vielleicht macht der Mörder einen Fehler, vielleicht stellt er sich auch selbst. Ach was, Chef, das glauben Sie doch auch nicht. Wir müssen selbst was tun und wenn wir keine Hundertschaften mehr bekommen, dann finden wir ihn halt alleine. Nur wir drei.«
»Und die anderen 50 der beiden SoKos«, holte Lindt seinen jungen Mitarbeiter wieder in die Realität zurück. »So wenige sind das eigentlich gar nicht, wir brauchen nur noch etwas Kreativität«, sinnierte er.
10
»Auf gehts, Ideen sammeln, Brainstorming, oder wie das heißt«, munterte Lindt bei der nächsten Besprechung seine Kollegen auf.
Das unerträgliche Sommerwetter hatte in der zweiten Septemberwoche endlich einer mehrtägigen kühlen Regenfront weichen müssen. Jetzt schien zwar wieder die Sonne, aber mehr als 20 Grad gab es selbst in Karlsruhe nicht.
Der Kommissar fühlte sich nach den quälend langen Hitzewochen erstmals so richtig wohl. »Endlich sind meine Synapsen nicht mehr permanent überhitzt«, tippte er sich an die Stirn. »Vielleicht fällt mir ja jetzt was Gescheites ein.«
»Wie wäre es denn«, schlug Claus Eschenberg vor, »wenn wir uns alle einen Tag Auszeit gönnen? Morgen tut jeder das, wozu er am meisten Lust hat.«
»Dienstlich befohlenes Faulenzen sozusagen«, grinste Jan Sternberg. »Meine Familie wird begeistert sein.«
»Eher Batterien aufladen«, korrigierte der Psychologe. »Abschalten, ausschlafen, es sich gut gehen lassen, kurz gesagt, mit neuer Kraft übermorgen wieder antreten.« Er sah Oskar Lindt fragend an.
»Das ist schon die erste gute Idee. Vorschlag angenommen! Überstunden haben wir ja genug – und dass mir keiner alleine im Hardtwald spazieren geht! Ich brauche euch alle wieder, jeden Einzelnen.«
Einer wusste nichts von Auszeit, von Abschalten oder Faulenzen. Ausschlafen konnte er schon gar nicht. Spätestens um halb fünf Uhr in der Frühe katapultierten ihn seine wirren Albträume aus dem Bett.
Er sah Hände von Radfahrern, die nach ihm griffen, fühlte sich belästigt. Eine gesichtslose Gestalt zog die Tasche vom Lenker seines Fahrrads, riss den Deckel auf und kreischte triumphierend: ›Aha, endlich!‹
Ein riesiger Kleinbus stürzte direkt vor ihm aus den Baumkronen, 14 Türen öffneten sich und unzählige Polizeisterne tanzten im Kreis um ihn herum.
Der schlimmste aller Träume aber begann oben in einem unheimlich hohen Treppenhaus. Er konnte sich nicht wehren. Etwas Unsichtbares zog ihn über das Geländer. Er fiel und fiel und fiel. Das Fallen nahm kein Ende, quälend lange dauerte es, aber dann – und erst daran wachte er auf – öffnete sich tief, ganz
Weitere Kostenlose Bücher