Waldstadt
mutierte. Durch immer mehr Kurven, Tunnels und Brücken kämpfte sie sich bergauf, entlang der Murg nach Süden.
»Schau mal! Das sieht man vom Auto aus gar nicht so!« Carlas Begeisterung wuchs ständig. Atemberaubende Ausblicke auf den tief eingeschnittenen Fluss wechselten ab mit der Sicht auf dunkelgrüne Berghänge, aus denen einzelne Laubbäume mit beginnender Herbstfärbung herausleuchteten.
Neben den Lindts gab es in der Bahn noch genügend andere Karlsruher, deren Wanderkleidung zeigte, dass sie den Tag in den dichten Tannenwäldern des oberen Murgtales genießen wollten.
»Für Bergabtouren kann ich mich ja direkt begeistern«, rief Sportmuffel Oskar nach vorne zu Carla, als sie am Bahnhof von Baiersbronn ausgestiegen und einige Kilometer auf gepflegten Wegen ohne größere Kraftanstrengung talabwärts gerollt waren.
Ab und zu hielten sie an, beobachteten, wie die Forellen im Fluss sich der Strömung entgegenstellten und wie eine flinke Wasseramsel in das rasch fließende Wasser eintauchte, um einige Meter weiter mit gefülltem Schnabel wieder zum Vorschein zu kommen.
Kurz vor Schwarzenberg, immerhin waren sie schon über zehn Kilometer geradelt, meldete sich rein zufällig Oskars Magen. »Da vorne über die Brücke und dann rechts«, rief er von hinten und Carla antwortete: »Die Hotels hier hab ich schon vom Zug aus gesehen.«
Im ›Löwen‹ genehmigten sie sich ›Geschmortes Rehschäufele auf Wirsingrahm‹ und setzten ein gutes Stündchen später bestens gestärkt ihren Weg fort.
Besonders begeisterten sie sich für die riesigen rundgeschliffenen Flusssteine in der engen Murgschlucht bei Raumünzach. Nach dem langen heißen Sommer war Wasser auch hier im niederschlagsreichen Schwarzwald echte Mangelware. Zusätzlich wurde noch einiges zur Stromgewinnung entnommen und erst in Forbach wieder zugeführt.
Völlig problemlos konnten Carla und Oskar daher im Bachbett umhergehen und von einem Stein zum anderen balancieren. Hell leuchteten diese übergroßen Kiesel in der Sonne und luden ein, sich eine Weile zu entspannen. Carla fühlte die gespeicherte Wärme mit der Hand: »Komm, wir setzen uns Rücken an Rücken.«
Nach einer Weile machte sich die Härte des Steins bemerkbar, doch sie legten einfach ihre Jacken als Polster unter, genossen das beruhigende Gurgeln des Wassers und fühlten sich herrlich wohl.
Oskar konnte nicht anders, die gleichmäßigen Geräusche taten ein Übriges und seine Augenlider wurden immer schwerer. Carla spürte die tiefer werdenden Atemzüge an ihrem Rücken und bemerkte, dass sein Kopf sich mehr und mehr nach vorne neigte, doch sie blieb trotzdem ruhig sitzen. Erst der grelle Pfiff der gelb-roten Bahn, die gerade in einen der vielen Tunnel einfuhr, weckte ihn wieder.
»Ich war wohl ein wenig eingenickt«, brummte Oskar und rieb sich schläfrig die Augen. »Diese Tour de Murg ist genau die richtige Entspannung für gestresste Stadtmenschen.«
Das direkte Gegenteil, nämlich knallharte Anspannung, konnte man zu genau dieser Zeit in einer kleinen Karlsruher Stadtwohnung fast mit Händen greifen. Zur selben Zeit, als Carla und Oskar Lindt am Ende ihres Erholungstages die Fahrräder in Forbach wieder in die ›S 41‹ hievten, war ein sportlich durchtrainierter junger Mann in seinen zwei Dachgeschosszimmern schon fast eine Stunde im Kreis gelaufen. Er wusste nicht mehr ein noch aus, die Energie verbraucht, die Reserven erschöpft, seine Situation war völlig aussichtslos.
Er ballte die Fäuste, warf die Arme nach oben, ruderte wild durch die Luft und zentrierte seinen imaginären Gegnern einen Faustschlag nach dem andern. Obwohl er nichts trug außer seinen Boxershorts und barfuß durch die Wohnung tobte, war er am ganzen Körper klatschnass geschwitzt. In dicken Perlen stand ihm das Wasser auf der Stirn, in kleinen Rinnsalen lief es über den Rücken und durchnässte den Bund seiner Hose.
Seinem Vater, dem hatten sie damals auch so was angehängt. Noch schlimmer der Vorwurf. Ob er tatsächlich schuldig gewesen war? Gewalttätig auf jeden Fall und als Unschuldiger hätte er sich doch nicht …
Sein Vater vielleicht, aber doch nicht er! »Unglaublich, unvorstellbar, nicht möglich, das gibt es nicht«, immer wieder schrie er seine kahlen Wände an und meinte das, was sich an diesem Vormittag in der Sporthalle des Neureuter Schulzentrums ereignet hatte.
Der junge Lehrer musste für eine erkrankte Kollegin einspringen und hatte nicht nur die Jungs, sondern auch die
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