Waldstadt
Kinder blieben verschont. Ein Portraitfoto des bekannten Hochschullehrers und mehrere Bilder, die seine Frau bei Konzerten am Flügel zeigten, wurden nach Absprache freigegeben, aber ansonsten behelligten die Medien die Trauerfamilie nicht.
Verschiedene Radioprogramme strahlten Reportagen aus, dabei begleiteten Rundfunkjournalisten die Bereitschaftspolizei bei ihren Befragungen. Viele der Angesprochenen bekundeten tiefe Abscheu vor den Verbrechen und versprachen, die Augen besonders gut offen zu halten.
»Fördern wir mit diesem Vorgehen nicht das Denunziantentum?«, runzelte Paul Wellmann wieder einmal seine hohe Stirn, als er mit Lindt später am Abend alleine im Büro war.
»Ich verstehe dich, Paul«, antwortete sein Kollege, »aber siehst du eine Alternative?«
Wellmann zog die Achseln hoch. »Warten wirs halt ab.«
Bereits am nächsten Tag liefen die Telefone heiß, die Aktenberge mit Hinweisen, wer wen am fraglichen Morgen auf den Alleen gesehen hatte, wuchsen und wuchsen. Drei Beamte waren vollauf beschäftigt, die Aussagen aufzunehmen und einzutippen.
Jan Sternberg hatte die geniale Idee: »Von jedem Mann, der eine Meldung abgibt, wird gleich ein digitales Bild gemacht und das wiederum den anderen Waldbesuchern vorgelegt. So lassen sich schnell und zuverlässig diejenigen Personen ausschließen, die sich gegenseitig erkannt haben.«
Auch die Fotos aus der Webcam in der alten Eiche nahe des ersten Tatorts wurden mitverwendet. Erstaunlicherweise funktionierte das Gerät immer noch problemlos und lieferte seine gestochen scharfen Bilder Tag und Nacht direkt ins polizeiliche Netz.
»Der Mörder könnte dort vorbei gekommen sein«, überlegte Sternberg und ließ die Aufzeichnungen des in Frage kommenden Zeitfensters besonders genau analysieren.
Lindt versprach sich davon allerdings nicht sehr viel. »Der neue Tatort ist zu weit weg vom Kamerastandort. Der Täter kann auch zig andere Wege benutzt haben.«
Nach einigen Tagen kristallisierte sich ein Rest von fünf Männern heraus, von denen zwar Personenbeschreibungen vorlagen, die sich aber selbst nicht gemeldet hatten, um eine Aussage zu machen.
»Einer von denen wars! Garantiert!«, frohlockte Sternberg. Auch Oskar Lindt war optimistisch. Er ließ sich sogar zu der Bemerkung hinreißen, die Idee mit dem ›Ausschlussverfahren nach Bildervergleich‹ würde Jan bei der nächsten Beurteilung einen Extra-Bonus einbringen. »Umso schneller gehts zum Kommissar-Lehrgang.«
Als Nächstes bekamen die Spezialisten aus der Abteilung von Ludwig Willms eine Menge Arbeit. Alle Waldbesucher, die einen der fünf Männer beschrieben hatten, mussten sich bei der Kriminaltechnik einfinden. Am Computerbildschirm wurden dann mithilfe eines topmodernen Grafikprogramms Phantombilder erstellt.
»Wir haben Bilder von allen fünf. Jedes durch mehrere Beobachtungen abgesichert. Das reicht noch bis zum Redaktionsschluss«, stürmte Jan Sternberg ins Büro.
Lindt und Wellmann schauten erschreckt von den Akten hoch, über denen sie gerade brüteten.
»Du willst sie gleich in die Zeitung bringen?«
»Ja, Chef, und ich bin überzeugt, dass wir schon morgen früh die ersten Hinweise haben.«
Lindt lehnte sich zurück, atmete einmal tief durch, zog dann wieder an seiner Pfeife und blies einen dünnen Rauchfaden aus dem Mundwinkel.
»Wie lange haben wir Zeit, Jan? Wann müssen die Bilder in der Redaktion sein?«
»Ich habe gerade angerufen. Eine halbe Stunde halten sie uns den Platz auf der ersten Lokalseite noch frei.«
»Lasst uns genau überlegen, was wir tun.«
Paul Wellmann teilte die Begeisterung seines jungen Kollegen nicht so ganz. »Stell dir mal vor, du stehst morgens auf, blätterst verschlafen durch die BNN und siehst plötzlich fünf Verbrecherbilder – deines ist dabei! Darüber steht groß und breit: Wer kennt diese Mörder – äh, Entschuldigung – Männer natürlich, wer kennt diese Männer? Möchtest du das erleben?«
»Nein, Paul«, druckste Sternberg unschlüssig herum. »Wir müssten halt eine passende Überschrift wählen. Eine, die nicht gleich nach Steckbrief aussieht. Aber es könnte auch ganz anders kommen: Jemand erkennt seinen Nachbarn, ruft bei uns an, wir schicken gleich zwei Streifen hin, holen denjenigen ab, Vernehmung, Speichelprobe, DNA-Vergleich und dann wissen wirs. Mörder oder nicht, so einfach geht das!«
Oskar Lindt rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Wenn es klappt, ists gut. Aber wenn nicht?
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