Waldstadt
Conradi dem Kommissar ins Ohr. »Gestern flog sie und bleibt vier Wochen.«
»Dort passt sie hin«, zischelte Lindt augenzwinkernd zurück und jeder konnte ihm ansehen, wie positiv sich diese Nachricht auf seine Stimmung ausgewirkt hatte.
»Leute, wir packen das!«, machte er seinen Kollegen Mut. »Zeigt, was ihr könnt, es kommt auf jeden Einzelnen an. Der kleinste Hinweis kann uns auf die richtige Spur führen. Wir dürfen nichts übersehen.«
»Die Medien werden über uns herfallen«, warf Sternberg ein.
»Gerade deshalb müssen wir unsere Anstrengungen verdoppeln, ach was sage ich, vervielfachen. Jeder hier im Raum hat gute Ideen und genau die brauchen wir. Wir werden nicht nur abwarten, was uns die KTU und die Rechtsmedizin liefern, nein, wir müssen selbst aktiv werden.«
»Die Hundertschaften wieder?«, fragte Jan Sternberg.
»Genau, und diesmal uniformiert. Ich will, dass es von ihnen wimmelt. Sie müssen die Leute ansprechen, überall, auf der Straße, im Wald, beim Bäcker, an der Tankstelle, im Supermarkt. Fußgänger, Radfahrer, Hundebesitzer, Jogger, die Rentner auf der Parkbank, die Schüler an der Haltestelle. Wir werden Plakate aufhängen und Handzettel verteilen. Zeitung, Radio, Fernsehen, alle Medien werden wir einspannen, sodass sie gar keine Zeit haben, unsere Arbeit zu kritisieren. Und glaubt mir, irgendwer hat was gesehen, irgendeinem ist was aufgefallen. Wir müssen die Bevölkerung nur dazu bringen, mit uns zu reden!«
Lindts Optimismus war ansteckend. Die Vielzahl der Aufgaben wurde auf 15 Kleingruppen verteilt, alle machten sich unverzüglich an die Arbeit.
Für 19 Uhr setzten Lindt und Conradi eine Pressekonferenz an, bei der sie die Journalisten mit derartig vielen Informationen über die geplanten Aktionen überschwemmten, dass für kritische Fragen einfach kein Raum blieb.
»Sie gehören ab jetzt zu unseren wichtigsten Mitarbeitern«, wandte sich der Staatsanwalt an die Pressevertreter und Lindt schlug in die gleiche Kerbe: »Mit Ihrer Hilfe wird es uns gelingen, die Öffentlichkeit zu mobilisieren. Alle Bürgerinnen und Bürger sind zur Mithilfe aufgerufen, denn jeder muss wissen, dass es auch ihn hätte treffen können.«
Tilmann Conradi appellierte über die Radiomikrofone und Fernsehkameras, über die Diktiergeräte und Stenoblöcke direkt an die Bevölkerung: »Bitte sprechen Sie unsere Beamten an, wenn sie Ihnen auf der Straße begegnen. Teilen Sie uns alle Beobachtungen mit, auch wenn sie noch so nebensächlich erscheinen. Dieser Mörder, der heute Morgen wieder völlig wahllos zugeschlagen und zwei Kindern die Mutter genommen hat, ist mitten unter uns. Denken Sie bitte daran, die Polizei arbeitet für Ihre Sicherheit und dafür, dass Sie nicht der Nächste sind, dem die Schlinge um den Hals gelegt wird!«
Ein Blitzlichtgewitter erhellte den Saal, als Oskar Lindt ein dünnes Stahlseil hochhielt und es im Handumdrehen zu einer Schlinge bog. Selbst die hartgesottensten Journalisten aber schrieen auf, als er diese einer Schaufensterpuppe, die extra organisiert worden war, über den Kopf stülpte und ruckartig zuzog.
Sieben Mal musste er die Prozedur wiederholen, bis alle Fernsehkameras die Szene im Kasten und alle Bildreporter die Speicherchips ihrer Digicams gefüllt hatten.
»Schockiert?«, fragte Conradi nach der Vorführung direkt in die Objektive. »Genau das war unsere Absicht. Diese Bilder müssen jedem durch Mark und Bein gehen. So fühlt es sich an. Man wird vom Fahrrad gestoßen, liegt hilflos am Boden und blitzartig legt sich eine solche Schlinge um den Hals. Ein kräftiger Ruck, das ist das Ende! Deshalb seien Sie auf der Hut und helfen Sie mit – bitte!«
Die Berichterstattung war beispiellos: »Ganz Karlsruhe jagt den Schlingenmörder«, titelte die ›Bildzeitung‹ deutschlandweit in fetten Lettern. Großaufnahmen der Lindtschen Vorführung fanden ihren Platz gleich daneben.
Für einige Zeitungen waren die Bilder hart an der Grenze, aber sie druckten die Fotos letztendlich doch, weil alle anderen es ebenfalls taten.
In der Nachrichtenredaktion des SWR entbrannte eine heiße Diskussion, ob die Filmaufnahmen gezeigt werden sollten, und letztendlich beließ man es bei einem Zehnsekundenstreifen, der abbrach, als Lindt der Puppe die Schlinge über den Kopf zog.
Privatsender kannten keine derartigen Bedenken. Sonderminuten verlängerten die stündlichen Nachrichten und einige Fernsehteams drehten sogar direkt am Tatort.
Nur Joseph Freitag und seine
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